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von Judith Schuck, 27.01.2022

Die hohe Kunst der Selbstinszenierung

Die hohe Kunst der Selbstinszenierung
Das Frauenfelder Stadtwappen mit den Wildleuten hat es der Museumsdirektorin Gabriele Keck besonders angetan. | © Judith Schuck

Wie Instagram, nur vor 400 Jahren: Zum Internationalen Jahr des Glases zeigt das Historische Museum Thurgau seine schönsten Glasmalereien. Eine neue Audiotour erzählt die spannendsten Geschichten dazu. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)

Glas ist ein uralter Stoff. Erste Nachweise finden sich in Texten um 1600 vor Christus, Ursprung wahrscheinlich Ägypten. Das transparente Material begleitet uns bis heute, ob als Konfi-Glas, Fensterscheiben, Reagenzgläser oder in Prunkbauten wie dem Prime-Tower in Zürich-West.

Funktionell, hygienisch und wunderbar rezyklierbar – über diese Vielfalt an Eigenschaften sind wir uns im Alltag meist gar nicht bewusst, obwohl wir aus Glas trinken, unsere Häuser damit öffnen und dennoch nach Aussen hin isolieren können, oder gar in Form von Brillenglas die Sehkraft korrigieren. Um diesen transparenten Feststoff angemessen zu würdigen, hat die UNO 2022 zum Internationalen Jahr des Glases erklärt.

Selbstdarstellung von Prunk und Pomp

Grund genug für das Historische Museum Thurgau das Motto aufzugreifen. «Am Anfang stand ein Forschungsprojekt zur Thurgauer Glasmalerei», erklärt Museumsdirektorin Gabriele Keck bei der Medieninformation im Schloss Frauenfeld.

Eigentlicher Start war für 2016 angepeilt, richtig los ging es erst fünf Jahre später. «Der Thurgau ist sehr reich an Glasmalereien, ob in Rathäusern, Kirchen, Klöstern oder Museen», so die Kunsthistorikerin.

Ikonografien fänden sich sowohl mit sakralen, aber auch profanen Inhalten. Denn vor allem im 16. und 17. Jahrhundert war es Mode, sich selbst und seinen Reichtum mittels kleiner Glaskunstscheiben zur Schau zu stellen. Nicht nur der Adel, bald auch vermögende Handwerker nutzten diese Form, um sich wichtig zu machen. Die Museumsdirektorin zieht gar den Vergleich zur Social-Media-Plattform Instagram.

 

Kulturvermittler Luca Stoppa erklärt die vielen kleinen Details auf einer Glasscheibe von Hans Ulrich Jegli. Bild: Judith Schuck

 

Fantastische, biblische oder reale Alltagsszenen

45 dieser Wappenscheiben, Fensterstiftungen und Allianzgläser, auf denen fantastische, biblische oder reale Alltagszenen abgebildet und die Namen der Donatoren natürlich grosszügig genannt sind, werden aktuell im Schloss Frauenfeld ausgestellt.

«Glas & Gloria» lautet der Titel der Ausstellung zum Jahresthema Glas. Hier werden die Stars und Sternchen des 16. und 17. Jahrhunderts präsentiert. «Die Menschen der gesellschaftlichen Elite zeigen sich im besten Licht», sagt Gabriele Keck, eine Anspielung auf die Mehrdeutigkeit, denn Licht ist nötig, um die Kunstwerke zu durchleuchten.

Wilde Männer, verwachsen mit der Natur

Die wohlhabende Gesellschaft inszeniere bewusst ihren Reichtum, durchaus auch ein wenig übertrieben. So sind die Handwerker des Zimmermanns Hans Witzig, die auf einer Bildscheibe beim Erbau der Mühle Riedern bei Roggwil um 1644 dargestellt sind, in teuerstes Tuch gekleidet – sehr unwahrscheinlich auf einer Baustelle.

 

Bau der Mühle von Riedern. Etwas zu schick für die Baustelle. Bild: Judith Schuck

 

Als ein Lieblingsstück des Museums gilt die «Frauenfelder Stadtscheibe» von Hans Jegli, enstanden um 1625. Zwei bärtige, muskulöse Wildleutemänner umranken im wörtlichen Sinne das Wappen, denn sie scheinen verwachsen mit der Natur: Jeweils einen Baumstamm wie einen Stab umfassend, den Kopf mit einem Blätterkranz gekrönt und die Scham von grünendem Laub und Blüten umwachsen. Das Frauenfelder Wappen selbst zeigt das «Fräuli mit dem Leuli», das Fräulein mit dem Löwen. 

Audiotour mit ungewöhnlicher Erzählweise

Um diese meist sehr detailreiche Kunst besser zu verstehen, hat sich das Museumsteam die Audiotour «Ach, du Scheibe!» einfallen lassen.

Statt eines rein wissenschaftlichen Führers wird das Wissen aus der Perspektive dreier fiktiver Guides vermittelt: Museumsbesucher:innen können an jedem Standpunkt wählen, ob sie eher die Gruselgeschichten von Tanja Gräuel, Faktenwissen von Sascha De Facto oder doch lieber die Romantik in den Bildscheiben mit Fabian Liebeskind erzählt bekommen möchten.

 

Der neue Hörguide enthüllt faszinierende Geschichten auf und hinter den historischen Scheiben. Bild: Karin Bischof

 

Gruslige Folterwerkzeuge sind ebenfalls ausgestellt

Passend zum Gerichtssaal im Schloss ist hier auch die sogenannte Gerichtsscheibe ausgestellt. Wolfgang Breny aus Rapperswil schuf sie um 1591. Auch wenn die abgebildeten Gerichtsherren wohl eher einen harmlosen Fall behandelten, lässt Tanja Gräuel uns wissen, dass am Rathaus Frauenfeld noch bis 1830 öffentliche Demütigungen wie die Folter mit der Halsgeige vorgenommen wurden, oftmals wegen Bagatellfällen. Die gruseligen Werkzeuge dazu, Schwert und eben Halsgeige, sind direkt neben der Gerichtsszene original in voller Grösse zu sehen.

Zu den oben erwähnten Wildleuten weiss Sascha De Facto, dass diese antropomorphen Wesen als einsiedlerische Urmenschen galten, die von Region zu Region eine andere Bedeutung haben konnten. Im Frauenfelder Wappen vermutet er ihre Symbolik jedoch darin, dass die Stadt die Natur gezähmt hat und zu einem zivilisierten Ort geworden ist, was mit dem wirtschaftlichen Aufschwung in Zusammenhang steht, den Frauenfeld im 17. Jahrhundert erfuhr.

Teure und fragile Comics

Für Fabian Liebeskind gibt es ebenfalls ausreichend Stoff, wie die Hochzeitsnacht von Sarah und Tobias aus dem Alten Testament. Die detailreichen Scheiben seien oft schwer lesbar, da viele Szenen gleichzeitig zu sehen sind, so Gabriele Keck. Sie vergleicht die Kunstwerke mit einer Art Comic.

Mit dem Forschungsprojekt ist die Publikation «Die Glasmalereien vom Mittelalter bis 1930 im Kanton Thurgau» von Sarah Keller und Katrin Kaufmann entstanden, die im Juni bei einer Buchvernissage vorgestellt wird.

Die Arbeit rund ums Glas führte noch zu einer weiteren wissenschaftlichen Errungenschaft: Sämtliche Glasmalereien aus dem riesigen Bestand des Museums sind nun digitalisiert. «Sie sind nun für die Öffentlichkeit zugänglich», unterstreicht Luca Soppa, Leiter der Kulturvermittlung.

 

Die Glasscheiben lassen viel Interpretationsraum. Bild: Judith Schuck

 

Digitalisierung der Bestände hilft der Forschung

Wofür Kunstforscher und Interessierte früher viel reisen mussten, kann heute gemütlich von Zuhause aus geschehen. Für das Studium der Glasscheiben hat die Digitalisierung den weiteren Vorteil, dass die kleinen Details herangezoomt werden können. Die Online-Sammlung ist über vitrosearch.ch abrufbar.

Diese grösste schweizer Plattform für Glaskunst unterstützte der Kanton aus dem Lotteriefond und das Vitromusée Romont in Fribourg, das dem Corpus Vitrearum International angehört, realisierte das Projekt.

Eine kleine Sensation in der Glaskunstforschung

Es sei den digitalen Medien zu vedanken, dass die Glasspezialist:innen von Romont in die Tiefe gehen konnten, sagt die Museumsdirektorin. Bei ihrer Arbeit an der Plattform hätten sie beispielsweise einen Glasmaler identifizieren können, der sowohl im Thurgau, als auch im Wallis tätig war. Diese Entdeckung ähnelte einer kleinen Sensation in der Glaskunstforschung. «Künstlerwanderung, Vorbilder und Einflüsse können so viel besser nachvollzogen werden», schliesst Gabriele Keck.

Zur Ausstellung bietet das Museum ein reiches Rahmenprogramm, bei dem der Werkstoff Glas aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet wird. Mit Vorträgen zur archäoligischen Sichtweise auf das Material, zum Thema Recycling oder eine Podiumsdiskussion zum gläsernen Bürger, aber auch mit Angeboten für Schulklassen möchte Kulturvermittler Luca Stoppa die Vielfalt des Glases der Bevölkerung nahe bringen. Das komplette Programm ist auf der Homepage des Museums zu finden.

 

Die Öffnungszeiten

Das Historische Museum Thurgau ist Dienstag bis Sonntag von 13 bis 17 Uhr geöffnet, Eintritt frei. Die 45-minütige Audiotour «Ach, du Scheibe!» gibt es gegen eine Leihgebühr von 5 Franken.

 

 

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