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von Inka Grabowsky, 23.03.2021

Die verschwenderischen Pfahlbauer

Die verschwenderischen Pfahlbauer
Taucher bei der Untersuchung der Pfahlbauten in der Turgibucht. | © Amt für Archäologie TG

Die Thurgauer Archäologen können belegen, dass schon die Pfahlbauer so leichtfertig mit den Ressourcen der Natur umgegangen sind, dass sie alle paar Jahre den Standort wechseln mussten. Nachhaltig lebten sie nicht. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)

Dass in der Turgibucht vor Steckborn eine ausgedehnte Pfahlbausiedlung bestand, ist keine archäologische Sensation. Schon Mitte des 19. Jahrhunderts wusste man davon. Beim extremen Niedrigwasser im Winter 1882 konnte man im Flachwasser unzählige Pfähle zu Tage treten sehen. Ein zeitgenössisches Aquarell in der Hand der Archäologin Simone Bengurel zeigt, wie sehr die frühen Bodenseebewohner auch damals ihre Nachfolger faszinierten.

Kein Wunder also, dass das 15.000 Quadratmeter grosse Feld inzwischen mehrfach untersucht worden ist. Jedes Mal gab es neue Erkenntnisse. Die taucharchäologische Kampagne derzeit konzentriert sich auf den Erhaltungszustand der Siedlungsreste.

Archäologin Simone Benguerel zeigt ein Aquarell zur Fundstelle 1882. Bild: Inka Grabowsky

Erosion durch Wasser und Wellen

„Das Faszinierende an der Unterwasserarchäologie ist, dass Dinge unter Sauerstoffabschluss erhalten geblieben sind, die an Land schon längst vergangen wären“, sagt Florence Gilliard, die mit drei weiteren Tauchern seit Anfang Februar in der Bucht unterwegs ist. Sie zeigt einige der über tausend Holzproben, die dabei genommen werden konnten.

Man sieht den Scheiben ihr mehr als biblisches Alter tatsächlich nicht an. Die Bäume mögen vor rund 6000 Jahre gewachsen sein, für Laien unterscheiden sie sich optisch nicht von Holzscheiben aus dem vergangenen Jahr. (Die Dendrochronologen im Amt für Archäologie sehen das naturgemäss anders.)

Video: Unter Wasser - Thurgauer Taucharchäologen bei der Arbeit

Sorgen um den Zustand der Pfähle

Trotz des frischen Eindrucks machen sich die Archäologen Sorgen um die Pfähle. „Im Sommer liegt dort, wo wir jetzt tauchen, ein Bojenfeld“, erklärt Simone Bengurel. „Die Ketten bewegen sich auf dem Seegrund und zerschmirgeln Holzreste. Der natürliche oder durch Boote induzierte Wellenschlag schädigt das Material ebenfalls. Deshalb wollen wir überprüfen, was auf den 400 Quadratmetern, die wir uns vorgenommen haben, noch zu finden ist.“

Weiter draussen in der Bucht, in der das Wasser tiefer als einen Meter ist, haben Forscher bei früheren Untersuchungen am Seegrund unter einer 20 bis 40 Zentimeter dicken schützenden Sedimentschicht organische Siedlungsreste gefunden: Körner etwa oder Knochen von geschlachteten Tieren. Im Flachwasser ist davon bestenfalls ein dunkler Bodenhorizont übrig.

Grabungstechnikerin und Taucherin Florence Gilliard zeigt Holzproben, denen man ihr Alter nicht ansieht. Bild: Inka Grabowsky

Das Idyll ist ein Klischee

Erkenntnisse lassen sich aber auch nah am Ufer gewinnen. Die Untersuchungen in der Turgibucht haben unter anderem ergeben, dass es nicht eine grosse Pfahlbausiedlung gab, sondern im Laufe von 1500 Jahren mindestens sechs nacheinander. Vom frühen vierten Jahrtausend bis zur Mitte des dritten Jahrtausends vor Christus kamen Siedler, blieben für eine Weile und zogen dann weiter.

Mal dürften die Häuser baufällig geworden sein, mal gab der Boden, den sie durch Brandrodung urbar gemacht hatten, nichts mehr her. „Die Menschen haben zu der Zeit alle Abfälle einfach in den See unter ihre Hütten geworfen. Für uns Archäologen heute ist das eine Fundgrube, für die Menschen damals dürfte es nach einiger Zeit fürchterlich gestunken haben“, sagt Bengurel.

„Wir wissen auch aus erhalten gebliebenen Exkrementen, dass sie unter Bandwürmern litten - sauber war das Wasser um die Pfahlbauten nach kürzester Zeit nicht mehr.“

Spuren menschlicher Arbeit im Neolithikum: Archäologin Simone Bengurel zeigt eine Keramikscherbe mit liebevoller Verzierung. Bild: Inka Grabowsky

Funde und Zufallsfunde

Trotzdem hatten die Pfahlbauer auch Sinn für das Schöne im Leben. Der Lieblingsfund von Simone Bengurel aus der aktuellen Kampagne ist eine kleine Perle aus Kalkstein, die in mühsamer Handarbeit zurecht geschliffen wurde, um einen Menschen zu schmücken. Andere Funde zeigen die weitverzweigten Handelsbeziehungen, die es damals schon gab: Feuersteine kamen aus Italien, Steinbeile aus den Zentralalpen oder den Vogesen.

Neben den Zeitzeugen aus der Jungsteinzeit bringen die Taucher Jüngeres an die Oberfläche: „Wir haben auch schon eine Arzt-Schere, einen neuzeitlichen Ring und einen Haufen Rasierklingen gefunden - so ganz nebenbei entrümpeln wir den See“, sagt der Grabungstechniker Thomas Keiser.

Irene Homberger taucht gerne für die Wissenschaft ab. Bild: Inka Grabowsky

Warum Tauchen im eiskalten Wasser gar nicht so schlimm ist

Er betont, dass das Tauchen im eiskalten Wasser gar nicht so schlimm sei. Die Profis tragen einen beheizbaren Thermo-Overall unter dem Trockenanzug. Nur die Füsse und ein kleines Stück des Gesichts würden kalt. Und damit die Taucher die vierstündigen Schichten aushielten, hätten sie sogar ein Ventil zum Urinablassen im Anzug.

Störend könnte nur die eingeschränkte Sicht durch den aufgewirbelten Schlick sein, aber auch dafür gibt es eine technische Lösung: Ein Strahlrohr, das mit Wasser durch einen Feuerwehrschlauch gespeist wird, erzeugt eine künstliche Strömung, die Sedimente mit sich reißt.

Grabungstechniker Thomas Keiser zeigt den Thermoanzug. Bild: Inka Grabowsky

Zwischenbilanz: Es bleiben viele Fragen

Simone Bengurel zieht eine positive Zwischenbilanz kurz vor Ende der Kampagne: „Wir gehen mit einem Fragenkatalog an die Arbeit heran, finden einige Antworten und kommen am Schluss mit zusätzlichen Fragen wieder heraus“. Das gewaltige Pfahlbaufeld vor Steckborn wird auch kommende Generationen von Archäologen immer wieder zu Tauchgängen reizen – jedenfalls, wenn die Erosion genug Relikte der Vergangenheit übriglässt.

Spuren menschlicher Arbeit im Neolithikum: eine Perle geschliffen aus Kalkstein. Bild: Inka Grabowsky

 

 

 

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