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von Maria Schorpp, 22.01.2018

Ein menschlicher Ableger

Ein menschlicher Ableger
Schwierige Mutter-Tochter-Konstellation: Die beiden Schauspielerinnen Rachel Matter und Mona Petri in "Die rote Jungfrau". Das Theater Ariane schüttet mit seinem Stück ein Füllhorn an heissen Themen aus. | © Theater Ariane

Das Theater Ariane schüttet mit seinem Stück „Die rote Jungfrau“ ein Füllhorn an heissen Themen aus. Die unglaubliche und wahre Geschichte des Wunderkindes Hildegart Rodríguez beeindruckte im Frauenfelder Eisenwerk.

Von Maria Schorpp

Warum die ohne Zweifel waschechte Spanierin Aurora Rodríguez Carballeira ihre Tochter mit dem urdeutschen Namen Hildegart versah, bedarf einer Erklärung. Anfang des 20. Jahrhunderts war fälschlicherweise die Überzeugung im Umlauf, der weibliche Vorname habe eine griechische Wurzel und bedeute „Garten der Weisheit“. Vielleicht hat die Namenswahl aber auch mit Auroras Vorliebe für den deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche und dessen Phantasien vom Übermenschen zu tun. Weil sie mit ihrer Tochter selbst einen Übermenschen schaffen wollte. Das Verrückte an der (wahren) Geschichte ist, dass Aurora in gewisser Weise sogar erfolgreich war.

Wenn ein Theaterregisseur und Autor vor der Vorstellung vor das Publikum tritt und versichert, dass 90 Prozent dessen, was gleich auf der Bühne gesprochen werde, abgeschrieben sei, dann ist auch das erst einmal ungewöhnlich. So geschehen im Theater im Frauenfelder Eisenwerk, wo Jordi Vilardaga in sein Stück „Die rote Jungfrau“ einführte, das er gemeinsam mit den beiden Schauspielerinnen Rachel Matter und Mona Petri entwickelt hat. Gemeinsam haben sie sich der unglaublichen Geschichte der Hildegart Rodríguez angenommen.

Es ist ein dokumentarisches Stück, mit dem das Theater Ariane in Winterthur auf Tour gegangen ist, und hat doch eine wundervolle Poesie. Rachel Matter und Mona Petri als Mutter und Tochter sehen wie Zwillingsschwestern aus, wie sie da auf der Bühne des Eisenwerks stehen. Beide in fast gleichen grauen Kleidern mit zaghaften Verzierungen am Ausschnitt (Maske von Satomi Rüegsegger, Kostüme von Karin Eigenheer). Während sie zu erzählen beginnen, findet eine kleine Choreografie statt. Immerzu bewegen sich die beiden Frauen um einander herum, wie beim Hütchenspiel, bei dem man nur glaubt zu wissen, wo sich die Kugel befindet. Die Identitäten verschwimmen.

Keine Regung: Die Mutter bleibt eine Projektionsfläche

Auroras Plan scheint aufgegangen zu sein: Sie hat ihre Tochter als „einen Ableger von sich“ geschaffen, wie Hildegard später sagen wird. Rachel Matter bleibt als Mutter, die ihre Tochter als ihr „Werk“ betrachtet, bis zum Schluss eine Projektionsfläche. Kaum mal eine Reaktion verrät ihre innersten Motive. Sie hat sich gezielt einen Mann gesucht, der sie schwängern und dann wieder verschwinden sollte. 1914 kam Hildegart zur Welt.

Mona Petri ist lange Zeit das roboterhafte zweite Ich, die Tochter, die geboren wurde, damit sie die Frauen befreie von der Unterdrückung durch Mann und Gesellschaft. Dabei ist sie schon tot, als sie auftritt. Mit 18 Jahren wurde sie von ihrer Mutter erschossen. Wirklich wahr. Die fand ihr Werk fehlerhaft und hat es vernichtet. Schön zu sehen, wie zuvor aus der Marionette Hildegard ein Mensch geworden ist. Das alles steht in Gerichtsprotokollen, Interviews, die Aurora während der Haft einem Journalisten gab, und Therapiegesprächen in der Psychiatrie, in die sie nach dem Gefängnisaufenthalt eingeliefert wurde.

Vilardaga, Matter und Petri haben dies alles sowie die zahlreichen Schriften, die Hildegart bereits in jungen Jahren veröffentlicht hat, für ihr Stück ausgewertet. Daher die 90 Prozent Abgeschriebenes. Hildegart war ein Wunderkind, nicht mehr und nicht weniger. Selbst für den Fall, dass die Berichte der Mutter etwas übers Ziel hinausschiessen, bleibt noch genug Gesichertes, um schlicht baff zu sein. Vor ihrem dritten Geburtstag konnte Hildegart bereits schreiben, mit elf Jahren veröffentlichte sie ihre erste Schrift zum Thema: Sexualreform in Spanien, mit dreizehn begann sie ein Jura-Studium, mit 16 hielt sie Vorträge für die Sozialistische Partei.

Das Stück steckt voller brisanter Themen, trotzdem erschlägt es nicht

Es ist ein wahres Füllhorn an Themen und Motiven, die das Theater Ariane mit „Die rote Jungfrau“ über sein Publikum ausschüttet. (Der Titel geht übrigens auf den hierzulande als Science Fiction-Autor bekannten H. G. Wells zurück.) Die Kunst der Theaterleute besteht darin, dass sie mit der Materialfülle nicht erschlagen. Das Textarrangement bleibt klar, die Themenmotive ziehen sich erkennbar durch das Stück. Bei der Schilderung von Hildegarts Erziehung meint man, heutigen Optimierungseltern zuzuhören. Das Thema Eugenik, die Wissenschaft von der Verbesserung der Erbanlagen, ist angesichts moderner medizinischer Möglichkeiten auch nicht fern. Die drei Puppen an der Wand neben den aufgereihten Puppengliedmaßen sehen vor diesem Hintergrund aus wie Muster von Menschen, die sich beliebig zusammenstecken lassen. Und dass das Thema Sexualität und Macht immer noch etwas mit unserer notdürftig aufgeklärten Gesellschaft zu tun hat, ist derzeit ausgiebig zu besichtigen.

Das funktioniert erstaunlich gut als Theater, was nicht zuletzt den beiden Schauspielerinnen geschuldet ist (Antonia da Silva spricht außerdem aus dem Zuschauerraum zweimal den vernehmenden Staatsanwalt). Diszipliniert und aufrecht bewegen sie sich auf dem sparsam mit Eisengestellen bestückten Bühnenraum und vermögen es trotzdem, Gefühle zu wecken, durch die Masken hindurch Liebe zwischen Mutter und Tochter durchscheinen zu lassen. 

Schade nur, dass bei der vorerst letzten Vorstellung die Stuhlreihen recht leer geblieben sind. In einem Jahr geht’s weiter.

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