von Andrin Uetz, 11.05.2021
Eine innere Kraft
#Lieblingsstücke, Teil 14: Peter Kamm hat eine rätselhafte wie faszinierende Skulptur im Arboner Jakob-Züllig-Park hinterlassen. Warum nur zieht sie uns so in den Bann? (Lesedauer: ca. 2 Minuten)
Eine sanfte Schneeschicht bedeckt die grosse Wiese des Jakob-Züllig-Parks an einem sonnigen Freitagnachmittag im Februar 2021. Die ArbonerInnen spazieren der See-Promenade entlang, zwischen frisch gestutzten Plantanen über den ebenso mit Schnee bedeckten Kiesweg.
Wie meistens wirkt der Park erstaunlich leer, der Musik-Pavillon eher wie eine grossbürgerliche Idee des öffentlichen Raumes als dessen tatsächliche Realisation. Auf den ersten Blick unscheinbar, aber dennoch zentral und präsent steht im Park eine eigenwillige Skulptur.
Die Aura eines Korallenriffs. Oder doch was ganz anderes?
Aus der Entfernung etwas an einen gestutzten Baumstrunk erinnernd, eröffnet dieses Etwas unweigerlich den Dialog mit den Plantanen. Tanzt da eine davon aus den Reihen? Bei näherer Betrachtung zeigt sich der Sandstein wie ein organisch gewachsenes Korallenriff, aber auch mit schwungvollen Marmorierungen, einzelnen Punkten wie rote Muttermale. Ruine, archäologisches Fundstück, raue Haut?
Für den Laien ist kaum zu erkennen, wo die Hand des Künstlers anfängt und was die Gegebenheit des Steins selbst ist. Spuren der Zeit, Flechten, Erosion durch Wasser, Wind und Wetter, nun sogar ein Häubchen aus Schnee, verwischen die Spuren von Knüpfel und Meissel. Hunderte von kleineren und grösseren Öffnungen hat der Stein, und es wirkt, als hätte er sich selbst geöffnet, als hätten da nicht äussere Kräfte eingewirkt; als gäbe es stattdessen eine Kraft von Innen, die ausbrechen will, sich öffnet zur Umgebung.
Eine Kraft von innen, die ausbrechen will
Oder sind es doch Spuren einer Belagerung? Schusslöcher, Blutflecken, Zeugen von Krieg und rauer Gewalt? Erinnerung an eine Radfahrt durch die Sommerhitze der kroatisch-serbischen Grenzregion im August des Jahres 2008 kommen auf. Die durchlöcherten Stadtmauern von Osijek, der zerstörte Wasserturm von Vukovar, die Ruinen des bombardierten Gebäudes des Generalstabs in Belgrad; alte Wunden, und Heilung braucht Zeit.
“Wir verschwinden nie” (2009, Eifelsandstein) steht auf einer kleinen Plakette am Fuss der Skulptur. Vielleicht eine Referenz an die Hausbesetzer-Szene der 1980er Jahre, in der Peter Kamm sozialisiert wurde? Ihr könnt uns polizeilich wegräumen lassen, mit Schlagstöcken und Tränengas, doch etwas von uns wird bleiben? Oder ist es grösser gedacht, biologisch oder gar metaphysisch? Wir verschwinden vielleicht als Menschheit, doch etwas von uns wird bleiben? Organische Masse wird zu Sternenstaub sozusagen?
Wie ein Spiegel der eigenen Erinnerungen
Wahrscheinlich ist das alles viel zu weit gesponnen. Die Figur fügt sich so unaufgeregt in die Landschaft, unterwandert die bourgeoise Ästhetik des Parks mit solch subtiler Nonchalance, dass diese Gedanken so unnötig sind wie zum Braten die Sauce.
Und wieder gleitet der Blick vom Sandstein hinüber zu den Platanen. Dienen diese im Sommer brav den Spazierenden als Schattenspender mit ihren funktional zugeschnittenen Blätterdächern, so zeigen sie im Winter ihre ungestümeren Seiten mit expressiven Astvergabelungen, dem Farbenspiel der Borken und den wie Flammen aus den Kronen schiessenden Ruten.
Plötzlich geht es mir mit der Skulptur gleich wie mit den Bäumen. Je länger ich sie betrachte, desto besser gefällt sie mir, und ich kann überhaupt nicht sagen, warum.
Die Serie #Lieblingsstücke und wie Du mitmachen kannst
In unserer neuen Serie #Lieblingsstücke schreiben Thurgaukultur-KorrespondentInnen über besondere Kunstwerke im Kanton. Das ist der Start für ein grosses Archiv der beliebtesten Kulturschätze im Thurgau. Denn: Wir wollen auch wissen, welches ist Dein Lieblings-Kunststück aus der Region?
Skulpturen, Gemälde, historische oder technische Exponate, Installationen, Romane, Filme, Theaterstücke, Musik, Fotografie - diese #Lieblingsstücke können ganz verschiedene Formen annehmen. Einige der vorgestellten Werke stehen im öffentlichen Raum, manche sind in Museen zu finden, andere wiederum sind vielleicht nur digital erlebbar. Die Serie soll bewusst offen sein und möglichst viel Vielfalt zulassen.
Schickt uns eure Texte (maximal 3000 Zeichen), Fotos, Audiodateien oder auch Videos von euch mit euren Lieblingswerken und erzählt uns, was dieses Werk für euch zum #Lieblingsstück macht. Kleinere Dateien gerne per Mail an redaktion@thurgaukultur.ch, bei grösseren Dateien empfehlen wir Transport via WeTransfer.
Oder ihr schreibt einen Kommentar am Ende dieses Textes oder zum entsprechenden Post auf unserer Facebook-Seite. Ganz wie ihr mögt: Unsere Kanäle sind offen für euch!
Alle Beiträge sammeln wir und veröffentlichen wir sukzessive im Rahmen der Serie. Sie werden dann gebündelt im Themendossier #lieblingsstücke zu finden sein.
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