von Brigitta Hochuli, 04.08.2016
Entstaubt und aufpoliert

Seit vielen Jahren sichtet Hanspeter Schär in der Musikbibliothek des Klosters Einsiedeln alte Handschriften, klopft sie auf ihre musikalische Substanz ab und transkibiert sie in zeitaufwendiger Arbeit für die heutige Spielpraxis. In einem Gespräch an seinem Wohnort Kreuzlingen im Thurgau erzählte er, wie diese Forschungsreise begann und dass sie noch lange weiter gehen könnte. Denn zu entdecken gäbe es noch viel unter den 50‘000 archivierten Notenbündeln.
Brigitta Hochuli
„Entstaubt und aufpoliert“. Unter diesem Titel luden das Badener Vokalensemble und das Ensemble La Fontaine letzten November zu drei Konzerten ein. Unter Leitung von Martin Hobi wurden „vergessene Perlen aus der klösterlichen Klangschatulle“ Einsiedelns dargeboten, die es in sich hatten. Eine CD zeugt von deren hoher Qualität. Entdeckt und transkribiert hat diese Musik Hanspeter Schär. „Es war die Krönung meiner Arbeit“, sagt der Kreuzlinger Chorleiter, Schulmusiker, Sänger und Blockflötist. Und er hoffe, dass nun weitere Chöre auf den Einsiedler Fundus aufmerksam würden.
Unbenutzt liegengeblieben
Zu diesem Fundus hätten ähnlich wie in anderen Klöstern der Schweiz die jahrhundertelange liturgisch-kirchenmusikalische Praxis, das Bildungswesen mit den Klosterschulen, verschiedene Zusammenführungen aus Klosteraufhebungen und Nachlässe geführt, schreibt Martin Hobi im Geleitwort zu den Konzerten. Viele dieser meist spätbarocken und klassischen Werke nach 1800 würden kaum noch musiziert und seien folglich in den Bibliotheken unbenutzt liegengeblieben.
Zunächst für den Eigengebrauch
Bisher hat Hanspeter Schär die alten Handschriften für den Eigengebrauch erforscht, wie er sagt. Begonnen hat alles Ende der 80er Jahre. Schär war Musiklehrer am damaligen thurgauischen Lehrerseminar in Kreuzlingen und leitete den bald weitherum bekannten Kammerchor der Schule. Einer der jungen Sänger war der heutige Organist Emanuel Helg, der Neffe des Klosterbibliothekars Pater Lukas Helg. Da passte es gut, dass Chorleiter Schär nicht zuletzt für Themen von Matura-Arbeiten schon früher nach unbekannter geistlicher Literatur gesucht hatte. Ein Telefonanruf nach Einsiedeln, und Schär wurde freundlich empfangen.
50‘000 Musikalien
Es war der Anfang einer höchst ergiebigen Forschertätigkeit, zunächst in der Musikbibliothek selber, seit zwei Jahren in einem Büro des Klosters. Pater Lukas steigt heute für Schär in den neuen unterirdischen Betonbau und bedient ihn mit den gewünschten alten Noten. Der Neubau entspreche bezüglich Sicherheit und klimatischen Bedingungen für all die unersetzbaren Schätze den modernen Anforderungen und dürfe nur noch von zwei Personen betreten werden. Die Auswahl trifft Schär aus dem Katalog der Handschriften zwischen 1600 und 1800, den der Bibliotheksleiter akribisch zusammengestellt hat. Insgesamt lagern in der europaweit grössten privaten Musikbibliothek rund 50‘000 Musikalien, Theoretica und Zeitschriften seit dem Jahr 1500.
Als Reformierter im Kloster
Hanspeter Schär ist reformiert. „Ich galt als Forscher“, erzählt er und lacht, wenn er an die Anfänge seiner Arbeit im Kloster denkt. Er durfte Bereiche betreten, die sonst nur den Patres zugänglich sind. Pater Lukas vertraute ihm. Den Handschriftenkatalog gab es damals noch nicht, es war eng zwischen den Tablaren und Schränken der alten Bibliothek. Schär nahm sich eigenhändig Karteikästchen für Karteikästchen vor. Zunächst suchte er nach Handschriften von Komponisten, die er bereits kannte. Zum Beispiel Tommaso Traetta oder Giovanni Battista Sammartini. „Ich habe mich darauf gestürzt, sie kopiert und aufgeführt - ein paar Mal ohne zu merken, dass die Sachen schon transkribiert waren.“
Google und der goldene Kelch
Heute gibt es Google, den Katalog und Notenprogramme für den Computer. So ist Hanspeter Schär effizienter und leistet den grössten Teil der Entdeckerarbeit in seinem Home Office in Kreuzlingen. Dort transkribiert er die vielen Einzelstimmen der kopierten Handschriften und erstellt les- und reproduzierbare Partituren. Hält er sich alle zwei bis drei Jahre in Einsiedeln auf, fügt er sich ins Klosterleben. Er esse schweigsam mit den Patres, höre mit ihnen die Lesung, gehe manchmal ins Stundengebet, kniee auf dem kalten Steinboden und bekomme den Messwein aus dem goldenen Kelch.
Der glanzvollste Fund
Hanspeter Schärs vielleicht glanzvollster Fund war in jüngerer Zeit das Gloria in G von Barnaba Bonesi (1745-1824), das in den Konzerten letzten November erstmals wieder aufgeführt wurde. Das Gloria in G sei ein achtsätziges, gut dreissig Minuten dauerndes Werk für 4 Gesangssolisten, vierstimmig gemischten Chor, Orchester (zwei Trompeten, zwei Oboen, Streicher) und Continuo, das in allen musikalischen Bereichen (Melodik, Harmonik und Rhythmik) sehr abwechslungsreich und farbig daherkomme, erklärt Schär. Stilistisch trage es barocke wie klassische Elemente, wie die meisten Werke der sogenannten Kleinmeister dieser Zeit. „Aber in diese Kategorie fällt man schnell, wenn zur eigenen Lebenszeit halt Genies wie Mozarts und Haydns wirken.“
Aus Tausenden von Blättern
Fünf sieben Zentimeter dicke Ordner voll Material warten in Kreuzlingen noch auf die Bearbeitung. Da trifft es sich gut, dass Hanspeter Schär vor fünf Jahren die Leitung der Adventlichen Chorwoche im „Laudinella“ St. Moritz übernommen hat. Die Sänger wie auch das professionelle Streichquartett, das von der Kreuzlingerin Elisabeth Kohli betreut wird, freuen sich jährlich auf die alten Trouvaillen aus Hanspeter Schärs Notenarchiv. (Neue Mitwirkende sind übrigens willkommen: www.laudinella.ch.)
Beispiel einer kopierten Handschrift, die Hanspeter Schär für die Transkription braucht.
Im Lauf der Jahre hat Hanspeter Schär Tausende von Blättern kopiert und aus einer Liste von 120 Werken nicht weniger als 30 bearbeitet. Es sind daraus viele konzertant aufgeführte Werke hervorgegangen, drei Schülerinnen haben auf Grund der Transkriptionen Matura-Arbeiten verfasst und Aufführungen bestritten.
Staub von Jahrhunderten
Die Arbeit ist zeitaufwendig, für die Transkription eines Tedeums braucht Hanspeter Schär schon mal 14 Tage. Publiziert ist bisher nichts; dass sich ein Verlag dafür finden lasse, sei aber möglich. „Ich hatte den Staub von Jahrhunderten auf den Fingern, und ich bin dankbar, dass ich mich mit ausserordentlichen Musikerkollegen, die vor über 200 Jahren gelebt haben, auseinandersetzen darf. Dabei staune ich immer wieder über deren unglaubliche Fähigkeit, eine ganze Partitur im Kopf zu haben. So gehe ich jeweils mit grosser Ehrfurcht nach Einsiedeln, das für mich unterdessen zu einem wahren Kraftort geworden ist.“
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Kontakte
Hanspeter Schär, Kreuzlingen, hpschaer@sunrise.ch
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Pater Lukas Helg OSB, Kloster Einsiedeln, p.lukas@kloster-einsiedeln.ch
Zur Person
Hanspeter Schär hat am Konservatorium Zürich Chorleitung, Schulmusik, Gesang und Blockflöte studiert. Während 38 Jahren war er Musiklehrer und Chorleiter am thurgauischen Lehrerseminar (heute Pädagogische Maturitäts- und Hochschule) in Kreuzlingen. Er war Gründer und langjähriger Leiter des Kammerchors dieser Schule, 2002 Co-Leiter des Schweizer Jugendchores und Experte SCV. Aktiv war Hanspeter Schär auch als Solotenor, Blockflötist und Stimmbildner. Seit 2010 ist er Leiter der Adventlichen Chorwoche in der „Laudinella“, St. Moritz.
Hanspeter Schär ist ausserdem Mitautor des Schweizerischen Liederbuches für die Unterstufe „Sing mit!“, Autor verschiedener Blockflötenliteratur, sowie Bearbeiter und Herausgeber von unbekannten Werken aus der Musikbibliothek des Klosters Einsiedeln. Er ist 70 Jahre alt, verheiratet, Vater und Grossvater und lebt seit der Kindheit in Kreuzlingen am Bodensee. (red)
Die Musikbibliothek
Im Kloster Einsiedeln befindet sich die grösste private Musikbibliothek der Schweiz. Sie ist eine Unterabteilung der Stiftsbibliothek und besteht aus etwa 50'000 gedruckten und handschriftliche Musikalien, Theoretica und Zeitschriften aus der Zeit nach 1500. Die älteren "Musicalia" befinden sich in der Stiftsbibliothek. Die Sammlung hat fünf Schwerpunkte: Musikalien von klostereigenen Komponisten, aus Oberitalien, aus Salzburg sowie aus aufgehobenen Klöstern.
Ein besonders wertvolles Kulturgut bilden die Musikalien von Johann Christian Bach. In der Musikbibliothek befinden sich 62 Werke des jüngsten Bach-Sohnes in Abschriften aus dem 18. Jahrhundert. Da die Autographe im Zweiten Weltkrieg zerstört wurden, sind die Einsiedler Handschriften die ältesten Quellen. Zwischen Einsiedeln und Salzburg mit seiner Benediktineruniversität und seinen zwei Benediktinerklöstern bestanden intensive Beziehungen. Ein besonders wertvolles Juwel in der Einsiedler Bibliothek ist das autographe Skizzenblatt von Mozart, das P. Gall Morel im Jahre 1856 in Augsburg erworben hatte. Es handelt sich um die Skizze zum zweiten Satz der Pariser-Sinfonie KV 300a/297.
Informationen zur Inventarisierung und zu zwei Projekten zur Erfassung der Bestände nach 1800 sind auf www.kloster-einsiedeln.ch zu finden. (red/pd)
P.S.: Oben stehender Artikel ist auch in der Zeitschrift "Musik und Liturgie" erschienen.

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