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von Inka Grabowsky, 29.11.2017

Etikettenschwindel

Etikettenschwindel
Markus Landert, Direktor des Kunstmuseum Thurgau, in der Adolf-Dietrich-Ausstellung "Mondschein über dem See" | © Inka Grabowsky

Wie naiv ist ein naiver Künstler? Diese Frage klärte Markus Landert, der Direktor des Thurgauer Kunstmuseums, am Dienstagabend in einem Vortrag im Begleitprogramm der aktuellen Ausstellung "Mondschein über dem See".

Von Inka Grabowsky

Adolf Dietrich ist schnell in die Kategorie „naiver Künstler“ einsortiert worden. Alles stimmt: Er ist Autodidakt ohne akademische Ausbildung, Feinheiten wie der Schattenwurf seiner Sujets sind ihn offenkundig egal, er gehörte – wenigstes zu Beginn der Karriere - eindeutig zu den Sonntagsmalern, die einem Brotberuf nachgehen mussten, um zu überleben. Und vor allem: Seine Bilder zeigen ein Idyll, das zu schön ist, um wahr zu sein. Ironischerweise ist es gerade der Aspekt der Wahrheit, der den Erfolg der Naiven Kunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts begründete. „Wir müssen das in Zusammenhang mit den anderen Kunstströmungen der Zeit sehen“, erklärt Markus Landert bei seinem Vortrag im Ausstellungskeller seines Museums. „Der Kubismus zergliederte die Wirklichkeit in Raumkörper, die Expressionisten wollten Gefühle darstellen und Kandinsky führte schliesslich 1912 sogar die Abstraktion in die Malerei ein. Er zeigte überhaupt keinen Gegenstand mehr. Das rief nach einer Gegenbewegung.“ Sie entstand in der „Neuen Sachlichkeit“, die sich darauf konzentrierte, genau zu beobachten und zu zeigen, was wirklich ist. In der Ittinger Ausstellung finden sich unzählige Belege, wie akribisch Adolf Dietrich die Realität erfasste und wiedergab. Naiv im Sinn von „unbedarft“ war das nicht.

Stil als Wahrheitsversprechen

Die Naive Kunst wendet sich gegen noch einen weiteren Stil, der im ausgehenden 19. Jahrhundert en vogue war.  Die Akademien brachten professionell ausgebildete Künstler hervor. Die Ausstellung ihrer Werke – namentlich auf dem Pariser Salon – galt als gesellschaftliches Ereignis. Doch die Motive galten Kritikern als zu oberflächlich. „Die Maler nahmen Bezug auf anerkannte Vorbilder oder antike Mythen, um einen Vorwand für die Abbildung eines nackten Frauenkörpers zu haben“, erklärt der Museumsdirektor anhand des Beispiels von Botticellis „Geburt der Venus“ und Cabonels Nachschöpfung aus dem Jahr 1863. „Das war offenkundig sehr auf den schönen Schein ausgerichtet.“ Ein naiver Künstler mit seiner Ungeschicklichkeit wirkt dagegen ehrlich und echt. Die Ausstellungsmacher im Kunstmuseum können Adolf Dietrich sogar nachweisen, dass er absichtlich Fehler in seine Werke einbaute. In den Skizzen zu seinem „Zuckeresser“ von 1924 ist die Perspektive noch nicht verschoben – im Ölgemälde schon. „Dietrichs berühmter Hund Balbo schwebt nicht deshalb auf dem Gras, weil der Maler nicht in der Lage gewesen wäre, zerdrückte Grashalme zu malen“, sagt Landert. „Es war ihm schlicht nicht wichtig.“ 

Markus Landert erklärt die unterschiedlichen Portrait-Stile von Kirchner und Dietrich.Markus Landert erklärt die unterschiedlichen Portrait-Stile von Kirchner und Dietrich. Bild: Inka Grabowsky

Doch nicht naiv

Unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten war Adolf Dietrich sicher nicht naiv. Er wollte erklärtermassen Bilder verkaufen. Wenn sich ein Motiv am Markt bewährte, nutzte er es mehrfach - auch aus purer Arbeitsökonomie. Einiges der Wiederverwertung war auch pure wirtschaftlich Notwendigkeit. Das Bild von seinem Vater auf der Treppe aus dem Jahr 1918 wollte er eigentlich nicht verkaufen, doch sein Galerist überredete ihn - also hat er es für sich selbst 38 Jahre nach der 1. Version einfach noch einmal gemalt.  Da er von jedem Motiv in der Natur Skizzen und oder Fotos gemacht hatte, war die Reproduktion leichter. Gerade dieses Malen nach der Natur passt nicht zum Etikett „Naive Kunst“. Gar so leicht mit der Zuordnung macht es uns Adolf Dietrich also nicht. Deshalb warnt Markus Landert: „Unser Blick wird durch Begriffe und die damit verbundenen Konnotationen verändert. Sie können uns leicht in die Irre führen.“

Termin: Die Ausstellung „Adolf Dietrich - Mondschein über dem See“ läuft noch bis zum 17. Dezember. Unsere Besprechung der Ausstellung können Sie hier lesen

Begleitprogramm der Ausstellung im Überblick 

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