von Barbara Camenzind, 17.09.2018
Ganz grosses Kino

Sie liessen den grossen Saal vibrieren: Das Jugendorchester Thurgau (JOTG) gastierte am vergangenen Samstag in der Tonhalle St. Gallen und stellte klar: Diese jungen Leute spielen nicht Orchester. Sie spielen IM Orchester. Das schon auf fast professionellen Niveau. thurgaukultur.ch begleitete das JOTG auf seinem Parforceritt durch Antonín Dvořáks Cellokonzert und P. I. Tschaikowskys 5. Symphonie. Es war eine bemerkenswerte Performance, in der die Hürden klug überwunden wurden.
Der Blick ins Programmheft liess vorab etwas schlucken. Schaffen die das? Dvořák und Tschaikowsky sind zwei Schwergewichte der symphonischen Musik, das Cellokonzert ein Konzerthallen-Evergreen, die 5. Symphonie in ihren stimmungsmässigen Gegensätzen tückisch. Auf dem Podium herrschte eine hochkonzentrierte Atmosphäre. Nach den ersten Takten stellte die Wahrnehmung überrascht um von: „Es ist wunderbar, das junge Menschen zusammen Musik machen“ auf „Profibetrieb des Rezensentinnen-Ohrs“. Wer eine so reife Leistung abliefert, wie dieser Klangkörper, dem gebührt eine differenzierte Konzertkritik.
Aus einem Guss formte das Jugendorchester die Klanggebäude rund um Thomas Grossenbachers Cello. Strahlend, grossartig in den Fortepassagen - die ehrwürdige St. Galler Tonhalle vibrierte förmlich. Diese klangschöne Kraft war schlichtweg beeindruckend. Dirigent Estarellas Pascuals reduzierte, präzise Gestik formte aus dem Wechselspiel zwischen Solist und Orchester einen grossen Atem. Gerade in den Streichern war seine Aufbauarbeit deutlich zu spüren. Jeder Bogenstrich war stimmig. Thomas Grossenbacher, Solocellist im Tonhalleorchester Zürich, adelte die Darbietung der jungen Talente. Farbig, sensibel, warm - und erfrischend unkitschig spielte er sich in die Herzen der Zuhörenden. Dvořáks Musik wurde zum spannenden Kopfkino. Wenngleich die Tempoübergänge noch etwas statisch wirkten, so gab es keine verwackelten Einsätze. Ein kluger Schachzug des Mannes mit dem Taktstock. Die leisen Passagen wurden zuweilen etwas sehr vorsichtig begangen. Wie gesagt, das ist „Jammern auf hohem Niveau“, denn organische Tempiwechsel und Pianopassagen sind schwer. Das kann wachsen.

Mit spanischer Strenge
Tschaikowskys 5. Symphonie ist auf eine romantische Art und Weise ein sperriges Werk. Das perpetuierende Schicksalsmotiv, die Wechselbäder der Gefühle zwischen Wehmut und Walzer fordern Spielende und Zuhörende. Gabriel Estarellas Pascuals spanische Strenge hielt - salopp formuliert - den Laden der über 60 Musizierenden gut zusammen. Was für Kammermusik wichtig - ist bei der grossen Symphonie überlebensnotwendig: Die Fokussierung auf den gemeinsamen Atem. Mit dem Risiko, im ersten Satz etwas zu kleinteilig agiert zu haben, spannte der Dirigent die Bögen immer weiter und zauberte tänzerische Leichtigkeit zwischen die hervorragend sonor gespielten tiefen Bläserpassagen.
Zum Schluss das rasante Finale: Kein Problem für die flinken Finger der Thurgauerinnen und Thurgauer. Und das ist nicht zweideutig gemeint. Es war eine Ehre, dass dieses tolle Orchester in St. Gallen zu Besuch war. Eine begeisterte Stimme aus dem Publikum sagte: „Es ist so cool, wenn sich junge Leute auf eine Sache konzentrieren. Und gemeinsam etwas Grosses leisten. Es sollten viel mehr Jugendliche in einem Orchester spielen, das würde ihnen gut tun.“ Das wünschte sich auch Andreas Schweizer, Präsident des JOTG. Bleibt zu hoffen, dass dieser Wunsch in Erfüllung geht und genügend Nachwuchs nachkommt. Bei Gabriel Estarellas Pascual ist er offensichtlich seit 10 Jahren in den besten Händen. Was für ein bemerkenswertes Aushängeschild für den Kanton Thurgau.
Video: Das ist das Jugendorchester Thurgau

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