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von Maria Schorpp, 26.08.2019

Herr der guten Geister

Herr der guten Geister
Der sichtlich gerührte Jossi Wieler bei der Übereichung des Kulturpreises 2019. | © Mario Gaccioli

Jossi Wieler erhielt im Kreuzlinger Seemuseum den Thurgauer Kulturpreis. Von einem Abend mit schönen und guten Momenten.

Die Frage ist in der Tat berechtigt: Warum erst jetzt? Jossi Wieler ist seit vielen Jahren ein international erfolgreicher, mit den renommiertesten Preisen ausgezeichneter Theater- und Opernregisseur. Spätestens seit seiner Intendanz an der Staatsoper Stuttgart ist er auf dem (bisherigen) Zenit seines Schaffens und auch Ruhms angekommen. 2016 wurde die Oper Stuttgart zum Opernhaus des Jahres gewählt. Also: Warum erhält der geborene Kreuzlinger erst 2019 den Thurgauer Kulturpreis?

Eine interessante Erklärung

Bei der Verleihung der Auszeichnung im Kreuzlinger Seemuseum fand Hans Jörg Höhener, der Präsident der Kulturkommission, die die Kandidaten-Liste für den Kulturpreis ermittelt, eine interessante Erklärung. Das habe möglicherweise etwas mit der Oper selbst zu tun. Als er kürzlich jemandem erzählt habe, er sei in der Oper gewesen, habe er bei seinem Gegenüber wohl der Eindruck erweckt, etwas gänzlich Unnützes und Verschwenderisches getan zu haben.

So lustig das klingen mag, so viel sagt es über das Selbstverständnis des Thurgauer Menschen aus. Immer eingedenk, dass er von den anderen Kantonen wegen vermeintlich mangelnder Weltläufigkeit belächelt wird, hat er sich womöglich bislang nicht getraut, seinem internationalen Star einen Preis anzutragen. Wenn es auch der höchste Kulturpreis ist, den er zu vergeben hat. Preisgeld immerhin 20‘000 Franken. Auch Regierungsrätin Monika Knill kam in ihrer Begrüssung der Gäste im vollbesetzten Seemuseum auf den suboptimalen innerschweizer Ruf des Thurgau zu sprechen und hielt trotzig dagegen: „Wir sind stolz auf unsere Heimat.“ Warum, konnte sie sogar mit Zahlen belegen: Ein Gesundheitsreport stellte gerade fest, dass die Thurgauer Bevölkerung gesünder und weniger einsam ist als die in der Restschweiz. Die Menschen hier erfreuen sich einer guten Wohnsituation und intakten Landschaft.

 


Jossi Wieler (mitte) umrahmt von seinem Laudator Prof. Dr. Hajo Kurzenberger und von Regierungsrätin Monika Knill. Bild: Mario Gaccioli

Gutes Klima im Opernhaus

Womit die Regierungsrätin wieder beim Preisträger anlangte. Jossi Wieler wurde am Abend der Preisverleihung ebenso für seine soziale Kompetenz wie für sein künstlerisches Schaffen als Regisseur und Intendant gepriesen. Tatsächlich war Jossi Wieler in Stuttgart für das ausserordentlich menschliche Klima im Opernhaus verantwortlich. Laudator Hajo Kurzenberger, Theaterwissenschaftler, Dramaturg und Jossi Wieler-Kenner, berichtete davon, dass bei Intendant Wieler niemand übersehen wurde, kein Chor-Mitglied und keine Reinigungskraft. Später am Abend war der Zusammenschnitt eines Films zu sehen, der das Opernhaus Stuttgart unter der Intendanz Jossi Wielers zum Gegenstand hat und im September in die Kinos kommt. Sein Titel „Das Haus der guten Geister“.

Ein Menschenfreund

Was lag also näher, als die intakte Landschaft im Thurgau mit dem guten Klima im Stuttgarter Opernhaus kurzzuschliessen und das eine zumindest ein bisschen als kindheitsbedingte Ursache für das andere in Erwägung zu ziehen. Als Jossi Wieler dann endlich selbst auf der kleinen Bühne des Seemuseums erschien, war auf der Stelle spürbar, von was die ganze Zeit die Rede war: Da stand ein Menschenfreund. Er sei „in der grossen weiten Welt Kreuzlinger geblieben“ so Jossi Wieler selbst, und das war nicht nur als eine dieser Nettigkeiten zu verstehen, die man sich bei solchen Gelegenheiten sagt. Seine Rührung war handgreiflich, als er seine Geschwister aus Israel, die eigens angereist waren, seine Verwandten aus Konstanz, seine einstigen Mitschüler und einen ehemaligen Lehrer begrüsste. Da hatte er bereits ins distanzierende Hochdeutsche gewechselt, mit der Begründung er sei „nah am Wasser gebaut“.

„Ich bin in der grossen weiten Welt Kreuzlinger geblieben.“

Jossi Wieler 

Es gab noch anderes, das Jossi Wielers Kindheit prägte und mehrfach zur Sprache kam: Seine jüdischen Vorfahren stammen aus Konstanz. Der Grossvater siedelte mit seiner Familie rechtzeitig ins Schweizer Kreuzlingen über. Als es in Deutschland für seine Verwandten gefährlich wurde, durften sie nicht mehr einreisen. Vielleicht kann dieser Abend sogar über sich hinauswirken. Hans Jörg Höhener schlug vor, sich der Geschichte der jüdischen Gemeinde in Kreuzlingen anzunehmen, zu der die Familie Wieler gehörte.

Eine „Kammer-Oper“ im Thurgau?

Nachdenkliche Momente, die dafür sorgten, dass aus dem schönen Abend ein richtig guter wurde. Überschwappende gute Laune gab es auch, was nicht unwesentlich mit den musikalischen Gästen von Wielers ehemaliger Stuttgarter Wirkungsstätte zu tun hatte, der Mezzospranistin Helene Schneiderman und dem Tenor Matthias Klink. Die Mischung aus Schubert, hebräischen Liedern, Operette und einem Lied auf Schweizerdeutsch, in Aargauer Mundart, wie Klink schelmisch anmerkte, war superb. Zwei Spitzenkünstler, begleitet von der nicht weniger versierten Thurgauer Pianistin Andrea Wiesli. Der Kulturkommissar konnte sich vorstellen, dass Wieler, um den künstlerischen Bezug des Preisträgers zum Thurgau zu unterstreichen, hierzulande eine „Kammer-Oper“ inszeniert. Wieder ein kleiner Spass, nach diesem künstlerischen Leckerbissen sollte man ihn jedoch im Hinterkopf behalten.

Video

Probenbesuch zu Jossi Wielers und  Sergio Morabitos Inszenierung von Vincenzo Bellinis "La Sonnambula" 2019 in der Deutschen Oper Berlin.

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