von Christian Brühwiler, 16.09.2013
Hochkultur zum Schnäppchenpreis?

Redaktionelle Erklärung: Christian Brühwiler, Romanshorner Musiker, Musiklehrer für Posaune und tiefes Blech sowie Veranstalter (zum Beispiel „klangreich“ der GLM Romanshorn), macht sich schon länger Gedanken zum musikalischen Kulturwerkplatz Schweiz. In einer Konzertkritik des kürzlich abgeschlossenen Festivals „Mammern Classics“ kündigte er einen Blogbeitrag zum Thema an. Zuvor stellte er den Organisatoren per E-Mail konkrete Fragen zu den finanziellen Aspekten. Eine Antwort blieb aus. Christian Brühwiler hat den Beitrag trotzdem verfasst, und wir haben ihn Intendant David Lang zur Stellungnahme unterbreitet. In der Hoffnung, unsererseits einen Beitrag zu einer in der Musikerszene existenziellen Problematik zu leisten, wählen wir die Form einer Gegenüberstellung der jeweiligen Meinung und Argumentation. (Brigitta Hochuli)
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Haben Sie, lieber Leser, nicht auch schon gestaunt, als ein Berufsorchester vor Ihren Augen und Ohren aufspielte, gestaunt nicht nur über die Musik, sondern auch über das ökonomische Rätsel, das sich vor Ihren Augen abspielt? Sie zählen dutzende, in manchen Fällen gegen gegen hundert Musiker, jeder und jede vom Kontrabassisten bis hin zur Piccolospielerin hoch qualifiziert und mittels Probespiel selektioniert. Vielleicht haben Sie dann den Stundenansatz, den Ihr Arbeitgeber Kunden gegenüber verrechnet, mit der Anzahl Stunden und der Anzahl Musiker multipliziert. Ganz gleich, ob Sie InformatikerIn, SchreinerIn oder RaumpflegerIn sind, Sie staunten, welche Beträge bei einer Orchesterproduktion zusammenkommen.
Orchester im postindustriellen Zeitalter sind anachronistische Institutionen. Pures Handwerk ist gefragt. Rationalisiert wird beim Probezeit sparen, und automatisiert sind höchstens die flinken, komplexen Bewegungsabläufe der MusikerInnen. Produktionskosten in der Schweiz sind hoch, und die Idee, die Ware „klassische Musik“ aus einem Billiglohnland zu importieren, findet seit dem Fall des eisernen Vorhangs auch in unserer Region immer wieder Anhänger. Während die Vergabe von Aufträgen an Firmen aus dem angrenzenden Ausland immer wieder für Gesprächsstoff sorgt oder der Einkaufstourismus Schweizer Händler auf die Barrikaden steigen lässt, werden Billiglöhne im Kulturbereich kaum thematisiert. Wenn auf dem Neubau ein Schweizer Maurer dem polnischen Arbeiter des deutschen Subunternehmens beim Plätteln zuschaut, kann er auf gesetzliche Regelungen und Gewerkschaften zählen, die seine Interessen wahren und mithin auch seine Existenz schützen. Der freie Musikmarkt hingegen ist in der Schweiz kaum reguliert.
Aida am Pfäffikersee löst Diskussionen aus
Diesen Sommer wurde in Musikerkreisen und für einmal auch in den wichtigeren Medien im Zusammenhang mit der Aida-Produktion am Pfäffikersee heftig über Musikerhonorare diskutiert und gestritten. Das Sinfonische Orchester Zürich SOZ zahlte seinen Musikern bei der Aida für Proben CHF 80.-, für ein Konzert CHF 120.-. Nach Abzug des darin enthaltenen Spesenanteils und der Teilung des Honorars durch die Anzahl Arbeitsstunden resultiert ein bedenklich tiefer Stundenlohn. Zusätzliche Sozialleistungen wurden keine gezahlt, Schlechtwetter bedeutete Verdienstausfall. Zwar gibt es eine Tarifordnung mit Mindestlohnansätzen des Schweizerischen Musikverbands, an denen sich die professionellen Orchester der Schweiz orientieren, doch ist diese rechtlich nicht verbindlich. Der Boykottaufruf des Verbandes Musiker Schweiz, keine SOZ-Aida-Verträge zu akzeptieren, hatte jedenfalls die Veranstaltung nicht gefährden können. Zu viele Schweizer Musiker können es sich nicht leisten, auf dieses beschämend geringe Einkommen zu verzichten, zu gross ist die Konkurrenz, zu übersättigt der Markt.
Was zahlt „Mammern Classics“?
Von Seiten der Verantwortlichen der Aida-Produktion wurde unter anderem argumentiert, dass ihnen Offerten von Orchestern aus dem ehemaligen Ostblock vorgelegen hätten, die gegenüber dem SOZ 50% tiefer seien. Bei „Mammern Classics“ im Thurgau frägt sich: Könnte es sein, dass das akademische Orchester der Philharmonie Lugansk eines dieser Orchester ist, die zu niedrigen Preisen und Löhnen die freie Musikerszene in der Schweiz unter Druck setzen? Könnte es sein, dass das akademische Orchester der Philharmonie Lugansk über den Daumen gepeilt mit CHF 40.- für eine dreistündige Probe und +/- CHF 60.- für ein Konzert kalkuliert? Wir wissen es nicht, „Mammern Classics“ hat auf eine entsprechende Anfrage (noch) nicht reagiert. Und wenn wir es wüssten, würden wir gerne noch wissen, wie viel von dem gesamten Orchesterbudget schliesslich beim Musiker und der Musikerin ankommt.
Nachwuchsförderung
Irritierend ist der Umstand, dass es bei „Mammern Classics“ auch und nicht zuletzt um den künstlerischen Nachwuchs gehen soll. David Lang als Initiator geht es um junge, hoffnungsvolle Dirigiertalente und nicht zuletzt darum, in unkonventionellem Ambiente neues Publikum für klassische Musik zu gewinnen. Gegen diese (Partikular-) Interessen, Initiativen und Ziele gibt es grundsätzlich wenig einzuwenden.
Ob die Mittel diesen Zielen entsprechen, ist jedoch fraglich. Produktionen mit Billigorchestern senden ein verheerendes Signal. Auch in unserer Region wird sehr viel in die Nachwuchsförderung investiert. Eine Vielzahl an Förderprojekten von Begabtenklassen, Meisterkursen, Wettbewerben bis hin zu besonderen Auftrittsmöglichkeiten animiert und ermuntert junge Musiker, fleissig zu geigen, zu flöten und zu trommeln. Meisterkurse in Uttwil beispielsweise oder das Begabten-Konzert im Rahmen von „Kammermusik Bodensee“ wären zwei aktuelle Beispiele.
Nachhaltige Kulturpolitik
Veranstaltungen mit Billigorchestern untergraben eine nachhaltige regionale Kulturpolitik. Sie sind, auf den Punkt gebracht, eine Investition in die Rückständigkeit und die Provinzialität des regionalen Kulturlebens. Dabei gäbe es durchaus gute Beispiele, wo die Vernetzung mit der Region stimmt und Früchte trägt, die Arbeit des Sinfonischen Orchesters Arbon beispielsweise. Zwar wird auch in Arbon Berufsmusikern keine Gage nach VMS-Ansätzen gezahlt, was grundsätzlich fragwürdig ist, aber das Orchester leistet in verschiedener Hinsicht eine hervorragende Arbeit. Als gut geführtes Laienorchester, das auch vielen professionellen Musikern dankbare Aufgaben bietet, realisiert es nicht nur tolle Programme, sondern nutzt und fördert es die regionalen Ressourcen fast optimal.
Qualitätslabel für Veranstalter
Nicht nur bei Bananen und Kaffee, auch bei Kunst sind faire Produktions- und Handelsbedingungen wichtig. „Art but fair“, eine junge, von der österreichischen Mezzospranistin Elisabeth Kulman initiierte Selbsthilfeorganisation, die die Verbesserung der Arbeitsbedingungen professioneller Musiker zum Ziel hat, plant ein selbstverpflichtendes Qualitätslabel für Veranstalter. Das ist Zukunftsmusik, die noch fertig komponiert werden muss, aber es wäre doch ein stolzes Ziel für „Mammern Classics“, der erste „Art but fair“-zertifizierte Veranstalter im Thurgau zu werden.
Christian Brühwiler
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Die durch das Band hinweg negative, ja gar destruktive Darstellung unseres Events durch Herrn Brühwiler hat uns überrascht und brüskiert. Dies auch, als unser Anlass allseits (Medien, Publikum, Sponsoren, involvierte Künstler wie Orchester und Dirigenten, unzählige Helfer etc.) einheitlich auf grosse Begeisterung stiess.
Die Ausführungen von Herrn Brühwiler basieren zu einem grossen Teil auf suggestiven Vermutungen und entbehren einer fundierten Grundlage. Wir erachten eine solche Berichterstattung bzw. Thematisierung als tendenziös mit möglicherweise schädigenden Folgen.
Wir möchten folgende grundlegenden (und von Herrn Brühwiler wohl schlicht übergangenen) Sachverhaltselemente hervorheben:
- Träger des Festivals Mammern Classics ist ein Verein, dessen OK ("Management") aus 15 Freiwilligen besteht, welche sich während knapp zwei Jahren absolut unentgeltlich engagiert haben. Ferner haben sich über 80 weitere Helfer im Rahmen des Festivals unentgeltlich betätigt.
- Ziel des Festival ist es, hochstehende Klassik abseits grosser Veranstaltungsorte für jedermann zugänglich zu machen; eine gewisse "Niederschwelligkeit" und Volksnähe ist also durchaus gewollt. Daraus aber abzuleiten, dass die Besucher nicht in der Lage wären, gute Klassik zu erkennen, ist u.E. sehr anmassend!
- Das Engagement des Orchesters Lugansk gründet in persönlichen Beziehungen (zum Chefdirigenten Liutauras Balciunas, welcher in der Schweiz wohnhaft und berufstätig ist und wiederum in enger Verbindung zu den Musikern und Künstlern steht).
- Das Konzertprogramm wurde vor dem Festival mit dem Orchester vor Ort in Lugansk eingeprobt. Dazu sind die hiesigen Dirigenten extra in die Ukraine gereist. In einigen Fällen wurden sogar Konzerte mit demselben Programm in der Ukraine gegeben. Von einer unseriösen Konzertvorbereitung kann also nicht die Rede sein.
lic. iur. Carol Lang, PR & Marketing; David Lang, Intendant
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