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von Barbara Camenzind, 01.10.2025

Gesang der Zeitenwende

Gesang der Zeitenwende
Von Salzburg nach Kreuzlingen: Der Oratorienchor bei Mozarts Vesperae solennes de Confessore. | © Barbara Camenzind

Ein klug konzipiertes Konzertprogramm, edle Töne und dazu die passende Stimmung: Der Oratorienchor Kreuzlingen und Gäste begeisterten das Publikum mit Mozart, Bruckner und Mendelssohn. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)

Anton Bruckner schrieb sein Requiem in D-Moll WAB 39 1848/49, zur Zeit der bürgerlichen Revolution, und überarbeitete es 1894, zwei Jahre vor seinem Tod. Über hundert Jahre zuvor schrieb Wolfgang Amadeus Mozart, sozusagen am Vorabend der Französischen Revolution, im Jahr 1780 seine Vesperae Solennes de Confessore KV 339 für seinen Dienstherrn, Fürsterzbischof Colloredo. Mit ihm geriet er zeitgleich in schwere Konflikte und wurde entlassen – im Salzburger Dom durfte halt nur ein Gott herrschen. 

Felix Mendelssohn schrieb 1830, im sogenannten europäischen Revolutionsjahr, als im Kirchenstaat erste grosse Unruhen auftraten, für das römische Nonnenkloster Trinità de’ Monti die Motetten Veni Domine und Beati omnes aus op. 39. Ein klingender Dialog des evangelischen Komponisten jüdischer Herkunft mit Sängerinnen, die er nicht einmal sehen durfte. Musik kann das.

Stimmige Stimmung

Diese Musik, gemäss ihrer Entstehungszeiten recht aufgeladen, braucht die entsprechende Stimmung. Dirigent Christian Bielefeldts Orchester, mit Lisa Herzog Kuhnert als Konzertmeisterin und Tina Speckhofer an der Truhenorgel, spielte auf Instrumenten der klassischen Epoche und im Kammerton 430 Hz. Das ist etwa ein Viertelton tiefer als die heutige Stimmung von 440–442 Hz. 

Merkt das niemand? Oh doch! Sängerinnen und Blechbläser merken es sofort. Wer genau zuhört, spürt es auch: Weniger Knall, entspanntere Registerübergänge und ein samtiger Klang.

Mozart mit Nachhall

Dixit Dominus – der Herr sprach: Präzise setzte der Chor seinen Einsatz in Mozarts grossen Gesang. In der Akustik der Kreuzlinger Hallenkirche verloren die Stimmen zunächst etwas an Griff, fanden sich im Konzertverlauf aber wieder zum sprechenden Duktus zusammen. Auch wenn man sich hier und dort knackigere Einsätze gewünscht hätte, war es ein schönes Hörerlebnis. Die filigranen Figuren im Orchester und Bielefelds organische, angenehme Tempi zauberten pastellige Klangfarben in den Herbstabend. 

Das Solistenensemble – Mechthild Bach, Sopran; Mirjam Fässler, Alt; Nik Kevin Koch, Tenor; Sascha Litschi, Bass – war perfekt zusammengesungen und glänzte in den Soloparts. Ein grosses Lob geht an Mechthild Bach, die das berühmte und bei Sängerinnen gefürchtete Laudate Dominum sensibel und leuchtend gestaltete. Dank der passenden Stimmung konnte sie entspannt singen. Legato at its best!

 

Tolle junge schweizer Stimme: Die Altistin Mirjam Fässler. Bild: Barbara Camenzind

Die Kraft der Frauenstimmen

Zauberhaft glänzten Mendelssohns helle Töne im Saal, kleine Terzenseligkeiten, feine Chorsoli und fast weihnachtliche Stimmung: Man hatte den Eindruck, die Glocken Roms läuteten von ferne. Die beiden Motetten Veni Domine und Beati omnes wurden dem Publikum als Köstlichkeit serviert – richtig, richtig schick.

Den ultimativen Wow-Effekt erlebten die Zuhörenden bei Anton Bruckners Ave Maria WAB 7, 1881 komponiert. Bruckner schrieb das Werk für Chor und eine Frauenstimme im Kontra-Alt – offenbar mit liebevollen Ohren. 

Mirjam Fässlers farbige, leuchtende Stimme war das Highlight des Abends: tiefe Resonanz, satte Tessitura und nahtlose Übergänge sorgten für Gänsehaut. Auch das Orchester ummantelte den Gesang warm, ohne zu überdecken. Ein bisschen Oper, ein Hauch Octavian Rofrano und solide Schule Brigitte Fassbaenders – eine aussergewöhnliche junge Schweizer Stimme.

Bruckner, der Brückenbauer

Das Besondere an Konzerten des Oratorienchors Kreuzlingen ist nicht nur die Darbietung, sondern auch Christian Bielefeldts humorvoll verfasste Programmtexte. Bruckners Musik weist zurück in die vorklassische Zeit und zeigt weit in die Zukunft – das trifft auch auf sein Requiem in D-Moll zu. Anton war als Komponist ein Brückenbauer, vielleicht schon bis zu Gustav Mahler und der Vollendung der Romantik. 

Die Orchesterbesetzung mit Truhenorgel und klassischem Horn liess in den schön gearbeiteten Fugen Johann Sebastian Bach grüssen. Tenor Nik Kevin Koch glänzte mit den Herren des Chores im Hostias. Die Wechsel zwischen A-Cappella-Parts und Orchester, die leichten Tempi und der subtile Einsatz von Licht und Schatten in der Phrasierung befreiten Bruckners Musik von Pathos älterer Aufnahmen. 

Schade, dass dieses Musikerlebnis so schnell vorbei war. Bruckner, ein kauziger Meister des Understatements, soll zu seinem Requiem gesagt haben: «Es is net schlecht». 

Grosses Bravo für dieses Konzert.

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