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von Anabel Roque Rodríguez, 05.07.2022

Im Dialog mit dem Raum

Im Dialog mit dem Raum
«Ich habe mehr Fragen als Antworten»: Die Künstlerin Sonja Lippuner im Porträt. 2022 hat sie einen der Förderbeiträge des Kantons Thurgau erhalten. | © Sonja Lippuner

In die Kunst kam Sonja Lippuner über die Bildhauerei. Heute interessieren die gerade mit einem Förderbeitrag des Kantons ausgezeichnete Künstlerin eher Kompositionen aus Flächen, Linien, Formen und den Beziehungen zwischen Farbräumen. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)

Hört man Sonja Lippuner über Material, Farbe und Räume sprechen, werden diese lebendig. Auch wenn die Werke von Sonja Lippuner abstrakt sind, so sind sie nicht losgelöst von der Welt, sondern stehen in enger Beziehung zu dieser.

«Meine Arbeiten haben viel mit mir als Mensch zu tun. Ich verliere mich oft in Sprache, in mir selber und wie ich die Welt sehe. Es prasseln so viele Eindrücke auf mich ein. Meine künstlerische Praxis ist ein Bündeln und Sortieren. Es ist immer ein Suchen – ich glaube ich habe mehr Fragen als Antworten», sagt die Künstlerin.

Die Arbeiten werden so zu einer Sprache, die zu erzählen beginnt. Wie dringt das Licht durch die Fasern? Wie nimmt man Raum ein, wenn man den Raum mit Farbe und Form füllt? Was sind die ortsspezifischen Gegebenheiten in einem Raum und wie geht man damit um? Es ist ein Denken in Material, Form und Farbe und viel Vertrauen auf den Schaffensprozess, der sie am Ende zu einem sprichwörtlichen Punkt bringt, wenn sie das Gefühl hat, «dass die einzelnen Elemente zusammenhalten».

Wendepunkt: Von der Skulptur zur Zeichnung

Die Künstlerin begann als Bildhauerin. Mit der Zeit fing sie an, sich vor allem mit dem Medium der Zeichnung zu beschäftigen und ging vom Blatt immer stärker in den Raum und zu installativen Arbeiten über.

Im Gespräch erzählt Sonja Lippuner, dass 2018 eine Art Wendepunkt in ihrem Schaffen darstelle: «Das skulpturale Arbeiten hat mich irgendwann eingeschränkt. Ich habe dann mit dem Zeichnen begonnen und dann nicht mehr damit aufgehört. Aus den Zeichnungen, die sich dann über die Zeit zu stapeln angefangen haben, sind dann langsam eigene Arbeiten entstanden. Wenn ich irgendwo Zweifel habe oder feststecke, dann fange ich an zu zeichnen, so wie andere vielleicht anfangen zu schreiben. In der Zeichnung kann ich eine Sprache entwickeln. Es lässt mich an Räume und Ideen herantasten.»

Die bildhauerischen Wurzeln ziehen sich dennoch tief durch ihr Werk. «Wenn ich im Raum bin, bin ich immer am Formen. Es ist ein Dialog zwischen mir, dem Raum und dem Material und wohin wir wollen. Das Arbeiten auf grossen Formaten, am Boden oder auf Fenstern hat etwas sehr körperliches und da ist man schon sehr nahe bei der Bildhauerei.

 

FALTER, HELLWACH 2019 Diverse Materialien auf Textil, Holz, Grösse variabel, Ausstellungsansicht I- Hood, Diplomausstellung Institut Kunst HGK Basel, Kunsthaus Baselland, (ch)

Zeichnungen und Raum

Ihre Zeichnungen entstehen nun seit einigen Jahren auch auf grossen Tüchern, die selbst raumfüllende Installationen sind. Es ist eine schlüssige Entwicklung von der Zeichnung zur Malerei und vom Tuch in den Raum hinein. «Das Textil selbst ist Material und erweitert das Papier mit einer Vorder- und Rückseite. Man kann Textil spannen und hängen und damit in den Raum gehen», sagt Lippuner.

Die ersten Arbeiten sind zu ihrem Diplom in Basel entstanden, in der Zwischenzeit kamen noch einige Meter Stoffbahnen dazu (120 Meter um genau zu sein!) – Arbeiten, die bisher noch nicht wirklich ausgestellt wurden, es aber sehr verdient hätten gezeigt zu werden.

Ortsspezifische Arbeiten

«Während der Corona-Jahre», wie Sonja Lippuner schmunzelnd erzählt, sind ihre Arbeiten ortsspezifischer geworden. Die letzten vier grossen Arbeiten hatten eine Zeitlichkeit, wurden für den Raum entwickelt und anschliessend weggewaschen oder herausgerissen. «Man kommt für diese Arbeiten in einen Raum mit dem Material, ist dann auch am kämpfen mit den Dimensionen. Kann ich diesen mit meiner Grösse überblicken? Die Arbeiten haben auch immer mit einer Massstäblichkeit zu tun.»

Die ortsspezifischen Arbeiten zeigen, wie sehr sich die Künstlerin auf einen Dialog mit dem jeweiligen Ort einlässt und nicht einfach nur Arbeiten in einem bestimmten Format zeigt. Eine der grössten Arbeiten ist für die Kunsthalle Arbon entstanden. «orten» war eine installative Malerei, die sich über den Boden der langen Ausstellungshalle gezogen hat und in ihrer Landschaft an Krater oder Seen erinnerte und dabei doch eigene malerische Räume aufmachte.

Video: Sonja Lippuner in der Kunsthalle Arbon

Für die Regionale 22 im Kunsthaus Basselland schaffte die Künstlerin die Arbeit «Zunge», die sich durch das Foyer in die Ausstellung hineinbewegte. Die Zunge als sprechendes Organ begrüsste die Besuchenden und besetzte das Foyer als Zwischenraum, mit einer Arbeit am Boden, die sonst selten in Ausstellungen malerisch bespielt wird.

In Beziehung zur Welt

Die Arbeiten von Sonja Lippuner verhandeln Beziehungen und wenngleich ihre künstlerische Sprache über Räume, Material und Farbe spricht, ist der Massstab bei ihr doch stets der Mensch.

«Die Themen um die ich kreise stehen natürlich immer irgendwie in Relation zur Welt und wie man in dieser Welt zurechtkommt. Es geht um Gefüge in denen wir leben und Beziehungen in denen wir sind. Ich formuliere es in meinen Arbeiten nicht unbedingt explizit, sondern übersetze es in meine Sprache. Viele Themen betreffen mich, ohne dass ich sie direkt in den Arbeiten kommentiere. Viel hat auch mit Gedanken zu tun, wer wie viel Raum einnehmen kann. Es ist ein Unterschied, ob man eine Skulptur fertigt, die zwei Tonnen wiegt und für die Ewigkeit sein soll – eine bildhauerische Thematik, die auch etwas Schweres und vielleicht Männliches hat, ein ‘ich bin ein Denkmal und so ist es jetzt’. Da ist viel Energie drin. Die Frage ist dann: Wie laut kann man mit Farbe werden? Was heisst es dann, wenn ich ein leuchtendes Pink nehme?»

 

ZUNGE, 2021, Untertapete bemalt, Ausstellungsansicht, Kunsthaus Baselland 2021, Foto: Gina Folly»

Was sie mit dem Förderbeitrag plant

Den Förderbeitrag (25'000 Franken) verwendet die Thurgauerin, die inzwischen seit vielen Jahren in Basel lebt, für verschiedene Aspekte ihres Schaffens. Einerseits möchte sie ihn für eine vertiefte Recherche in unterschiedlichen Textilverarbeitungsmöglichkeiten einsetzen. Bei dieser Recherche möchte sie gerne mit Berner Fachleuten aus dem Bereich der Restaurierung und dem Basler „Institut für Textiles Forschen“ zusammenarbeiten.

Am Rande erzählt sie auch von einem Vermittlungsprojekt, dass sie mit einer Vermittlerin mit Kindern im Kunstraum Riehen durchführt. Sie wird dort im Sommer vor Ort als eine Art artist-in-residence arbeiten und sich auf das Experiment einlassen, ob die Kinder ihre künstlerische Sprache aufgreifen oder was sie daraus machen. Im Zentrum steht dabei das Formen mit dem Textil und welche Möglichkeiten sich daraus ergeben.

Darüber hinaus verwendet sie den Betrag auch um sich räumlich zu erweitern. Die Künstlerin verrät im Gespräch, dass ihr Atelier inzwischen für ihr Schaffen zu klein geworden ist und sie auf die Idee gekommen ist, sich temporär in Räume zu mieten und sich so «Mini-residencies» zu organisieren. «Es ist spannend zu sehen, was so möglich wird und was es mit meiner Arbeit macht». Wer im Dialog mit Räumen steht, muss sich immer wieder einen neuen Gesprächspartner suchen.

 

Die Porträtserie zu den Förderbeiträgen des Kantons Thurgau

In einer neuen Serie stellen wir alle Gewinner:innen der diesjährigen Förderbeiträge des Kantons vor. Alle Beiträge werden im Themendossier zu den Förderbeiträgen gebündelt. Dort finden sich auch Porträts über frühere Gewinner:innen dieser Förderbeiträge.

 

Die Preisträger:innen 2022 sind: Hannes Brunner, (bildender Künstler, Zürich), Lea Frei, (Autorin und Illustratorin, St. Gallen), Michael Frei, (Filmemacher, Zürich), Sonja Lippuner, (bildende Künstlerin, Basel), Thi My Lien Nguyen, (bildende Künstlerin, Winterthur) und Fabian Ziegler (Musiker, Matzingen). Zu drei der sechs ausgezeichneten Künstler:innen sind in den vergangenen Jahren bereits Porträts erschienen. Diese Texte verlinken wir hier: Sonja Lippuner, Thi My Lien Nguyen und Fabian Ziegler.

 

Einmal im Jahr vergibt der Kanton die mit jeweils 25'000 Franken dotierten Förderbeiträge. Sie werden von einer Jury vergeben, die sich aus den Fachreferentinnen und -referenten des Kulturamts und externen Fachpersonen zusammensetzt. Auch in diesem Jahr sei die Anzahl und Qualität der eingegangenen Bewerbungen hoch gewesen, heisst es in einer Medienmitteilung des Kulturamts. Die Jury habe Künstlerinnen und Künstler aus vier verschiedenen Sparten ausgewählt und damit ein breites künstlerisches Schaffen im Kanton und darüber hinaus gewürdigt, heisst es weiter.

 

 

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