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von Judith Schuck, 02.03.2021

Keine Angst vorm Pop

Keine Angst vorm Pop
Hinter Plexiglas: Noah Pleuler im Schlagzeugunterricht bei Martin Deufel an der Popfactory Kreuzlingen. | © Judith Schuk

Popmusik wurde in Musikschulen lange vernachlässigt. Das hat sich inzwischen geändert. Auch weil es immer mehr private Initiativen wie die Popfactory in Kreuzlingen gibt. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)

Sich selbst bezeichnet Kai Kopp als Hybridmusiker. Obwohl klassische Musik studiert, bewegt er sich zusätzlich schon immer im Bereich der Popularmusik. «Es gibt ja im Grunde an jeder Musikschule eine Abteilung für Popmusik», diese werde aber gegenüber der klassischen meist weniger gewichtet. «Dabei haben beide Stilrichtungen ihre Daseinsberechtigung», findet der Leiter der Musikschule Jugendmusik Kreuzlingen (JMK).

Als er noch in Konstanz unterrichtete, dachte Kai Kopp: «Ich würde es mir zutrauen, eine Schule aufzubauen» und gründete 2010 in der deutschen Schwesternstadt die Jazz- und Rockschule. Innert 5 Jahren zählte sie 500 SchülerInnen. Ein Bedarf war also da.

Auch Sängerin Betina Ignacio ist dabei

Dann wurde allerdings publik, dass die Schule sich übernommen hatte. Sie stand vor dem Aus. Nicht nur, aber auch weil die Stadt Konstanz nicht bereit war, die Schule in dem Masse zu unterstützen, wie es sich die Schulverantwortlichen gewünscht hätten.

Die Stadt warf der Schule damals betriebswirtschaftliche Planungsfehler vor, die Schule ihrerseits beklagte mangelnde Wertschätzung und Unterstützung seitens der Stadt Konstanz. 2015 gab Kopp nach einem Zerwürfnis mit dem Konstanzer Kulturbürgermister Andreas Osner seinen Vorstandsposten schliesslich auf und verliess die Jazz- und Rockschule. Später übernahm er die Leitung der JMK.

Mit seinen langjährigen Freunden, der Sängerin Betina Ignacio und dem Schlagzeuger Markus Schmidt, plante er seit längerem auch für Kreuzlingen ein Angebot für Popularmusik zu schaffen, doch tourten Betina Ignacio und Markus Schmidt noch mit ihrer Bossa Nova-Jazz-Pop-Band «Bê» durch die Welt.

Geben auch Unterricht an der Popfactory: Sängerin Betina Ignacio und Schlagzeuger Markus Schmidt. Bild: zVg

Bekanntschaft mit der eigenen Stimme

Corona sorgte dafür, dass «Bê» nicht mehr von Hotel zu Hotel tingelten, aber letztlich auch die auf den Sommer 2020 angelegte Eröffnung der Popfactory verschoben werden musste. Doch kribbelten dem inzwischen in Konstanz sesshaft gewordenen Künstlerpaar und Kopp so sehr die Finger, dass sie bereits im Herbst erste SchülerInnen aufnahmen. Offiziell startete die Popfactory dann am 1. Januar 2021, ein grosses Einweihungsfest soll noch folgen. Momentan sind rund 30 SchülerInnen eingeschrieben.

Besonders Ignacios Gesangsunterricht boomte von Anbeginn. Ihr guter Ruf bescherte ihr allein durch Mund-zu-Mund-Propaganda alle Hände voll zu tun. Ob online oder in den grossen Räumen am Dorfplatz 1 – «ich unterrichte alle Jahrgänge, vom Kleinkind bis ins Seniorenalter, Frauen wie Männer», sagt die Singer-Songwriterin mit brasilianischen Wurzeln.

Rap, Soul, Rock – das Programm ist breit

Stilistisch hält sie sich an das Credo der Popfactory: «Alles, was die SchülerInnen gerne wollen».

Von Rap über Soul oder Rock. Dabei legt sie besonderen Wert auf das Mikrofontraining, da wir hier im Westen einen guten Umgang mit unserer Stimme verlernt hätten: «Wenn wir uns hören, müssen wir mit uns erst einmal vereinbaren, dass das unsere Stimme ist. Hat es da dann mal klick gemacht, gibt es kein richtig oder falsch mehr.» Im Pop stehe ohnehin der Groove an vorderster Front.

Emanual Matos-Piros spielt seit zwei Jahren Schlagzeug, inzwischen auch im Mini-Orchester. Bild: Judith Schuck

Beim Drummer macht‘s die Phrasierung

Schlagzeuglehrer Martin Deufel sieht das für sein Instrument etwas anders: «Ich trenne zwischen dem klassischen und Pop-Unterricht gar nicht so sehr». Er lehrt sowohl an der JMK, die der Popfactory die gesamte Infrastruktur bietet, als auch an der Popfactory selbst. «Jeder spezialisiert sich irgendwann.»

Der Groove sei bei den Drums oft gleich, je nach Stil müsse aber die Phrasierung anders gesetzt werden. Deufel, der an der Hochschule in Trossingen klassisches Schlagzeug studierte und zusätzlich dort und in Radolfzell unterrichtet sowie in einigen Band- und Orchesterprojekten musiziert, ist bereits seit 15 Jahren als Schlagzeuglehrer an der JMK.

Einige seiner SchülerInnen spielen im Orchester, wofür nicht nur das «normale Schlagzeug», sondern sämtliche Perkussionsinstrumente zum Handwerkzeugs gehören. Einer davon, Noah Pleuler, besucht seit 8 Jahren seine Stunden im Gewölbekeller der JMK. Als «Allrounder» ist er gleichzeitig Teil der Popfactory sowie Mitglied im Blasorchester und spielt die ganze Palette, nebst Rock auch Disco-Hits aus den 80ern.

Künftiger Rockstar? Elias Meier nimmt jedenfalls schon mal Unterricht an der E-Gitarre in der neuen Popfactory. Bild: zVG

Niederschwelliger Zugang zum Instrument

Der Zugang zur Popfactory ist denkbar einfach: Wunschinstrument wählen – darunter neben den gängigeren auch Ukulele oder Djembe–, Kontaktformular ausfüllen und allenfalls eine Zusatzinformation eingeben, abschicken fertig.

Wer nicht alleine zum Musikunterricht möchte, kann sich als Gruppe anmelden. «Langfristiges Ziel bei uns ist ohnehin, dass Bands entstehen», erläutert Kopp. Schliesslich mache gemeinsames Musizieren erst richtig Spass.

Musikschule setzt auf verschiedene Bedürfnisse

Eine Rock-Pop-Abteilung gibt es ebenfalls an der Musikschule Kreuzlingen in der Nationalstrasse 1. «Schon seit vielen Jahren», wie Martina Reichert erklärt. Sie übernahm 2019 die Leitung von Stephan Frommer. Eigentlich hätten die beiden Vereine JMK und MSK im 2020 fusionieren sollen; mit dem Leitungswechsel haben sich einige Voraussetzungen für den Zusammenschluss geändert, weswegen er zunächst auf Eis gelegt wurde.

Also kochen vorerst beide Musikschulen ihr eigenes Pop-Süppchen: An der MSK betreut Gitarren- und Basslehrer Matthias Ammann den Rock-Pop-Band-Workshop. Gleichzeitig unterrichtet Ammann aber auch an der neuen Popfactory. In Nach-Corona-Zeiten soll ausserdem ein Raum im Kult-X von der Musikschule genutzt werden. «Hier können unter anderem Vorträge gehalten werden, aber es soll auch ein Studio für Aufnahmen bereitgestellt werden», sagt Martina Reichert. Dieses sei eher für Erwachsene gedacht, während für die Jugendliche das Studio der Offenen Jugendarbeit (OJA) im Trösch bereit steht.

«Jazz ist ja sozusagen die neue Klassik.»

Martina Reichert, Leiterin Musikschule Kreuzlingen (Bild: Judith Schuck)

Unterricht für die unterschiedlichen Interessen und Wünschen der SchülerInnen ist ohnehin die neue Ausrichtung der MSK. So gibt es nicht nur für die Jüngsten, sondern auch speziell Erwachsene/Ü60 Kurse und darüber hinaus für Menschen mit besonderen Bedürfnissen.

Martina Reichert vertritt die Meinung, dass all diese Gruppen spezielle Fähigkeiten der Lehrperson forderten. Das finge an bei der Literaturauswahl: «Jazz ist ja sozusagen die neue Klassik. Bei Jugendlichen sind Jazz oder auch zum Beispiel die Rolling Stones weniger beliebt als bei den älteren Generationen.»

Die Popfactory? „Keine Konkurrenz“, sagt die Musikschulleiterin

Das brauche einen gewissen Hintergrund bei den Lehrpersonen, die den Unterricht je nach Bedürfnissen anders auslegen müssten, «nach anderen Stilen, Ansprüchen, aber auch unterschiedlichen motorischen Voraussetzungen.»

Die Popfactory sieht Reichert nicht als Konkurrenz, sondern als Ergänzung des Angebots in Kreuzlingen, das wiederum eine andere Gruppe anspreche.

Allrounder oder Spezialisten – vordergründig scheinen sich die Schulen anders ausgerichtet zu haben. Bleibt es also an den SchülerInnen zu testen, was den Unterschied ausmacht.

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