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von Maria Schorpp, 12.02.2018

Lebensnotwendige Irrtümer

Lebensnotwendige Irrtümer
Hat neue und alte Texte jetzt im Bodmanhaus vorgestellt: Helen Meier. | © Yvonne Böhler

Die Schriftstellerin Helen Meier sprach im Bodman-Literaturhaus mit ihrem Herausgeber Charles Linsmayer über ihr gerade erschienenes Lesebuch und über das Leben, die Liebe und den Tod.

Von Maria Schorpp

Es gibt schlechtere Anfänge, als bei den Ingeborg-Bachmann-Tagen in Klagenfurt entdeckt zu werden und gleich einen Preis für seinen literarischen Beitrag mit nach Hause zu nehmen. Als das mit Helen Meier geschah, war sie bereits 55 Jahre alt. Das ist ungewöhnlich. Die Literatur von Helen Meier ist ungewöhnlich. Dass bei der Lesung im Bodman-Literaturhaus dann auch ein ungewöhnlicher Mensch zu entdecken war konnte nicht mehr überraschen.

Ein Lächeln, mit dem die Sonne aufgeht. Als Helen Meier den altehrwürdigen Veranstaltungsraum im Gottlieber Bodman-Haus betritt, ist solch ein freudiges lachendes Lächeln zu sehen. Anlass ist eine andere ältere Dame, über deren Anwesenheit sie sich so offensichtlich freut. Das mit den Ingeborg-Bachmann-Tagen ist 34 Jahre her, in denen Helen Meier nun als offizielle Literatin etliches verfasst hat, für das sie weitere zahlreiche Preise erhielt. Aufgrund äusserer Umstände war bislang nicht mehr viel Gedrucktes von der ausgebildeten Primarlehrerin auf dem Buchmarkt zu haben. „Übung im Torkeln entlang des Falls“ heisst das Lesebuch, das jüngst in der Reihe „Reprinted by Huber“ mit Charles Linsmayer als Herausgeber erschienen ist – einem Helen-Meier-Kenner und -Fan, wie im weiteren Gespräch mit der Autorin unschwer zu erkennen war.

Unprätentiös wie Helen Meiers Sprache

Enthalten ist eben auch jene Erzählung „Lichtempfindlich“, mit der Helen Meier zu besagter Entdeckung wurde und die bei der Lesung den Anfang machte. Die Schauspielerin Heidi Maria Glössner las einen Auszug und zeigte sich als kluge und verständige Interpretin der Schriftstellerin. Unprätentiös wie deren Sprache, aber auch akzentuiert, wenn es gilt, die entschiedenen Gestimmtheiten zu artikulieren. Gut aufeinander eingestellt zeigten sich die beiden Präsentatoren Linsmayer und Glössner: Der Herausgeber und Autor einer den Band abschliessenden Helen-Meier-Biografie lieferte die Stichworte, die Vorleserin ergänzte mit einem literarischen Beispiel aus dem Lesebuch.

Helen Meiers Motive gehören zu den ganz grossen: die Liebe und der Tod. Inzwischen ist ein Motiv dazugekommen – gezwungenermassen: das Alter. „Besser, man sperrt sich nicht dagegen“, sagt sie. Hauptsache sei doch, dass man es überhaupt erlebe und wissen könne, was passiert. Helen Meiers Literatur ist voll von dem, was passiert. Als Charles Linsmayer sie fragt, ob sie ihre Stoffe dem Leben entnehme, hört sich ihre Antwort fast entgeistert an: Woher hätte sie sie den sonst haben sollen.

Die Autorin mag kantige Figuren, die zerrissen in sich selbst sind

Die Erzählung „Lichtempfindlich“ zum Beispiel hat ihren Ursprung in der Zeit Helen Meiers als Sonderschullehrerin. Bei einem Skiausflug wird eine Schülerin vermisst. Michael, ein lernschwacher Schüler, besteht darauf, der Lehrerin beim Suchen zu helfen. Mit wenigen Worten schafft es Meier, das Defizit des Jungen als wesentlichen Teil einer grossen Persönlichkeit zu zeichnen. Kantige Figuren mag sie, Zerrissene in sich selbst – wie in der Erzählung „Zufriedenheit“. Eine Frau geht über eine Brücke. Sie zwingt sich, nicht anzuhalten. Aus Angst wohl, sich selbst in den Abgrund zu stürzen. Todesangst und Todessehnsucht geben sich die Hand. Nicht die Themen oder Plots machen Helen Meiers Geschichten aus, wie Linsmayer sagte, sondern die Betrachtungsweise.

Was das im Extrem bedeuten kann, trug die Schriftstellerin selbst vor. Schlicht mit „Erzählen“ ist eine Seite im Lesebuch überschrieben, auf der hauptsächlich Dinge aufgezählt werden, Erinnerungsstücke aus der Kindheit, an Zuhause. Glückliche und andeutungsweise unglückliche. Der Blick der Lesenden wandert immer wieder von außen nach innen. Auch Helen Meier ist eine versierte Interpretatorin ihrer selbst.

Helen Meier liebt das Paradoxe

Und dann die Liebe. „Die Liebe ist ein Irrtum, aber ein lebensnotwendiger.“ Sie liebt das Paradoxe. In „Stürze“ schreibt sie über eine Frau, die mit der Bahn regelmässig in ein Hotel fährt. Hier hat sie sich „mit dem getroffen, der mein Mann hätte werden sollen“. Kein sinnliches Techtelmechtel, wenn auch nicht frei von – wieder – zerrissener Sinnlichkeit. Auf das „Unnennbare“ sei sie aus gewesen, „vorüber wie ein Duft, vorbei wie der Flug eines Vogels, von dem es keine Wiederkehr gibt“. Dabei kann Helen Meier von der Liebe auch komisch erzählen, wenn auch nicht frei von Ironie und Sarkasmus. Die Frauen eines ganzen Dorfes sind in ihren Bahnhofsvorstand verliebt. Während die Damen sich gegenseitig taxieren, verteilt der Angebetete seine Gunstbezeigungen mit Bedacht.

Der Erzählband beinhaltet bis auf einen Text bereits Erschienenes, aber bislang nicht mehr Erhältliches. Die Reihe „Reprinted by Huber“ wurde beim Orell Füssli-Verlag mit diesem Band 34 eingestellt, um im kommenden April unter dem Dach des Th. Gut Verlags mit Band 35 wieder aufgenommen zu werden. Und noch etwas: Marianne Sax, die Programmleiterin des Bodman-Literaturhauses, ist in die Jury für den Deutschen Buchpreis gewählt worden, wie Claudius Graf-Schelling, Präsident der Bodman-Stiftung, bekanntgab. Sie versprach, bei der Gelegenheit für das Haus neue Kontakte zu knüpfen.

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