von Maria Schorpp, 24.08.2020
Maries krasse Farbenwelt
Die Freie Bühne Thurgau mischt in ihrer zweiten Produktion „Die Farben in Meinem Kopf“ eine Coming of Age-Story mit ein bisschen Soap Opera. Die Kolorierung des Bühnenraums trägt dazu bei, dass die Uraufführung in ein spannendes Zwielicht gerückt wird.
Mit 17 hat man noch Träume, sang Peggy March seinerzeit. Maries Träume wachsen auch irgendwie in den Himmel der Liebe, aber das tut ihnen nicht richtig gut. Da oben, wo eigentlich der Himmel sein sollte, tobt die Hölle. Das war nicht immer so. Wahrscheinlich hat es mit Sophie zu tun, der Schwester Maries. Man erfährt nicht, was genau mit ihr passiert ist. Jedenfalls ist sie nicht mehr da. In den Köpfen schon. Dass die Eltern sich hinter der Wand immer wieder erbittert streiten, hat wohl etwas damit zu tun. Dass der Vater nur noch arbeitet und die Mutter sich teure Klamotten kauft, die sie nicht anzieht, wohl auch.
In Wirklichkeit herrscht Sprachlosigkeit
Im neuen Stück der Freien Bühne Thurgau, das im Eisenwerk in Frauenfeld zu sehen ist, sieht das Publikum die beiden Streithähne zuerst in Schwarzweiss. Vor ihnen ist eine Leinwand gespannt, die sie wie ein Schattenriss, unhörbar und umso bedrohlicher, erscheinen lässt. Die 17-jährige Marie nebenan hat Kompensationsmittel wie Arbeiten und Powershoppen noch nicht als Ablenkungsmanöver zur Verfügung. Die Ohren kann sie sich zuhalten, damit sie das Gekeife nicht hört. Dabei herrscht in Wirklichkeit Sprachlosigkeit. Für die Trauer, die alle im Griff hat, findet niemand Worte.
Das ist vermutlich das Hintergrundrauschen für Maries Ausflippen. Die neue Eigenproduktion „Die Farben in Meinem Kopf“ der Freien Bühne Thurgau belässt die Geschichte Maries im Unbestimmten, will nicht schlauer sein als ihre Figuren. Sie bedient sich jedoch eines Tricks. Das Chaos in Maries Kopf wird als farbiges Bühnenlicht nach draussen projiziert. Da protzen schon mal Signalfarben. Wenn etwa die hochaufgestellten Leinwände auf der Bühne rot aufflammen. Rot, die Farbe der Liebe und des Sex. Auch diese sinnlich lockende Frau, die um Marie herumschleicht, trägt ein rotes Kleid. Rot ist Provokation. Die Sprache der Farben auch im Kostümbild (von Aleena Krähemann), das in der Produktion der Freien Bühne ausgefeilt daherkommt. Maries Kopfstimmen, die, weil menschlich, von Menschen dargestellt werden, sind in die Kolorierung der Bühne einbezogen
Schnellen Zuordnungen verweigern sich die sieben jungen Darstellenden Corine Fischer, Sarina Hess, Aleena Krähemann, Levano Krähemann, Alena Weber, Sara Vivian Weber und Zeno Ruzzo jedoch. Bis dahin, dass zum Beispiel Maries Bruder von zwei Schauspielern dargestellt wird. Manchmal kann dieses Spiel mit den Ebenen schon verwirrend sein, soll es möglicherweise sogar. Vor allem ist es auch ein probates Mittel, die Psychologiefalle zu umgehen. Mag man die äussere Geschichte der Menschen zwar in ein gewisses Logikkorsett zwängen können, ist das menschliche Innenleben hingegen so widersprüchlich und komplex, dass eine Disziplin allein ihm nicht beizukommen vermag.
Sex und Drogen
Zumal wenn zu dieser leidvollen Familiengeschichte noch die Nöte der Pubertät kommen. Sehr mutig geht das Stück das Thema Sexualität an. Die Frau im roten Kleid ist immer dabei. Sie ist nicht die beglückende Liebe, nicht nur, sondern bedrohlich. Wie die Frau in der Business-Kluft, die Marie in den „Kreis“ locken möchte. Schnapsgläschen gehen um, Marie trinkt, widerwillig, aber sie trinkt. Da muss etwas mit psychedelischer Wirkung drin gewesen sein. Das ist in Frauenfeld mehr Hare-Krishna denn harte Drogenszene.
Die Geschichte, die sich das aus dem Jungen Theater Thurgau hervorgegangene Ensemble erarbeitet hat, ist eine Coming of Age-Story mit ein bisschen Soap Opera. Irgendwann packt die Mutter den Koffer und nimmt ihre beiden Kinder mit an den ewigen Strand, und alle drei werden glücklich. Vorübergehend. Wenn da der zurückgebliebene Vater nicht wäre. Dass nie wirklich Betulichkeit aufkommt, hat auch damit zu tun, dass die Farbenlehre in Maries Kopf neben den Signalfarben auch subtile Abstufungen kennt, die mehr wirken als sie beschreibbar wären.
Das Licht spielt mit
Da stehen alle an diesen Stelen, die immer wieder als multifunktionale Bühnenelemente hin und her geschoben werden, alle ein Telefon neben sich, über das sie Maries Kopf bespielen, ihre Kakophonie in ihn hineinballern. In solchen Momenten changiert das Licht ganz fein, wirkt mehr, als dass es bewusst wahrgenommen wird.
Die rund einstündige Aufführung gibt im besten Sinne Rätsel auf, stellt Fragen, anstatt Antworten zu geben. Höchstens die, dass Zeiten der Verunsicherung und Selbstzweifel zwar hart sind, aber auch weiterbringen können. Manchmal hätte man der Inszenierung allerdings ein wenig mehr Schärfe gewünscht.
Weitere Vorstellungen
Donnerstag 27. August 2020., 20.00 Uhr
Samstag 29.A ugust 2020, 20.00 Uhr
Sonntag 30. August 2020, 17.00 Uhr
Alle Infos sind hier zu finden.
Von Maria Schorpp
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Kommt vor in diesen Ressorts
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- Schauspiel
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