Seite vorlesen

von Maria Schorpp, 24.08.2020

Maries krasse Farbenwelt

Maries krasse Farbenwelt
Alena Weber als Marie (Mitte) und ihre Kopfstimmen am Telefon: (linke Reihe von vorn) Levano Krähe-mann, der Bruder, Sarina Hess, der Vater, Zeno Ruzzo, der zweite Schauspieler des Bruders, (rechte Reihe von vorn) Sara Vivian Weber, die Frau in Rot, Corine Fischer, die Frau im Kreis, und Aleena Krähe-mann, die Mutter. | © Freie Bühne Thurgau

Die Freie Bühne Thurgau mischt in ihrer zweiten Produktion „Die Farben in Meinem Kopf“ eine Coming of Age-Story mit ein bisschen Soap Opera. Die Kolorierung des Bühnenraums trägt dazu bei, dass die Uraufführung in ein spannendes Zwielicht gerückt wird.

Mit 17 hat man noch Träume, sang Peggy March seinerzeit. Maries Träume wachsen auch irgendwie in den Himmel der Liebe, aber das tut ihnen nicht richtig gut. Da oben, wo eigentlich der Himmel sein sollte, tobt die Hölle. Das war nicht immer so. Wahrscheinlich hat es mit Sophie zu tun, der Schwester Maries. Man erfährt nicht, was genau mit ihr passiert ist. Jedenfalls ist sie nicht mehr da. In den Köpfen schon. Dass die Eltern sich hinter der Wand immer wieder erbittert streiten, hat wohl etwas damit zu tun. Dass der Vater nur noch arbeitet und die Mutter sich teure Klamotten kauft, die sie nicht anzieht, wohl auch.

Bedrohliche Szene: Eltern, die sich nur noch streiten. (von links) Aleena Krähemann und Salina Hess. Bild: Freie Bühne Thurgau

 

In Wirklichkeit herrscht Sprachlosigkeit

Im neuen Stück der Freien Bühne Thurgau, das im Eisenwerk in Frauenfeld zu sehen ist, sieht das Publikum die beiden Streithähne zuerst in Schwarzweiss. Vor ihnen ist eine Leinwand gespannt, die sie wie ein Schattenriss, unhörbar und umso bedrohlicher, erscheinen lässt. Die 17-jährige Marie nebenan hat Kompensationsmittel wie Arbeiten und Powershoppen noch nicht als Ablenkungsmanöver zur Verfügung. Die Ohren kann sie sich zuhalten, damit sie das Gekeife nicht hört. Dabei herrscht in Wirklichkeit Sprachlosigkeit. Für die Trauer, die alle im Griff hat, findet niemand Worte.

Das ist vermutlich das Hintergrundrauschen für Maries Ausflippen. Die neue Eigenproduktion „Die Farben in Meinem Kopf“ der Freien Bühne Thurgau belässt die Geschichte Maries im Unbestimmten, will nicht schlauer sein als ihre Figuren. Sie bedient sich jedoch eines Tricks. Das Chaos in Maries Kopf wird als farbiges Bühnenlicht nach draussen projiziert. Da protzen schon mal Signalfarben. Wenn etwa die hochaufgestellten Leinwände auf der Bühne rot aufflammen. Rot, die Farbe der Liebe und des Sex. Auch diese sinnlich lockende Frau, die um Marie herumschleicht, trägt ein rotes Kleid. Rot ist Provokation. Die Sprache der Farben auch im Kostümbild (von Aleena Krähemann), das in der Produktion der Freien Bühne ausgefeilt daherkommt. Maries Kopfstimmen, die, weil menschlich, von Menschen dargestellt werden, sind in die Kolorierung der Bühne einbezogen

Schnellen Zuordnungen verweigern sich die sieben jungen Darstellenden Corine Fischer, Sarina Hess, Aleena Krähemann, Levano Krähemann, Alena Weber, Sara Vivian Weber und Zeno Ruzzo jedoch. Bis dahin, dass zum Beispiel Maries Bruder von zwei Schauspielern dargestellt wird. Manchmal kann dieses Spiel mit den Ebenen schon verwirrend sein, soll es möglicherweise sogar. Vor allem ist es auch ein probates Mittel, die Psychologiefalle zu umgehen. Mag man die äussere Geschichte der Menschen zwar in ein gewisses Logikkorsett zwängen können, ist das menschliche Innenleben hingegen so widersprüchlich und komplex, dass eine Disziplin allein ihm nicht beizukommen vermag.

Sex und Drogen

Zumal wenn zu dieser leidvollen Familiengeschichte noch die Nöte der Pubertät kommen. Sehr mutig geht das Stück das Thema Sexualität an. Die Frau im roten Kleid ist immer dabei. Sie ist nicht die beglückende Liebe, nicht nur, sondern bedrohlich. Wie die Frau in der Business-Kluft, die Marie in den „Kreis“ locken möchte. Schnapsgläschen gehen um, Marie trinkt, widerwillig, aber sie trinkt. Da muss etwas mit psychedelischer Wirkung drin gewesen sein. Das ist in Frauenfeld mehr Hare-Krishna denn harte Drogenszene.

Die Geschichte, die sich das aus dem Jungen Theater Thurgau hervorgegangene Ensemble erarbeitet hat, ist eine Coming of Age-Story mit ein bisschen Soap Opera. Irgendwann packt die Mutter den Koffer und nimmt ihre beiden Kinder mit an den ewigen Strand, und alle drei werden glücklich. Vorübergehend. Wenn da der zurückgebliebene Vater nicht wäre. Dass nie wirklich Betulichkeit aufkommt, hat auch damit zu tun, dass die Farbenlehre in Maries Kopf neben den Signalfarben auch subtile Abstufungen kennt, die mehr wirken als sie beschreibbar wären.

Das Licht spielt mit

Da stehen alle an diesen Stelen, die immer wieder als multifunktionale Bühnenelemente hin und her geschoben werden, alle ein Telefon neben sich, über das sie Maries Kopf bespielen, ihre Kakophonie in ihn hineinballern. In solchen Momenten changiert das Licht ganz fein, wirkt mehr, als dass es bewusst wahrgenommen wird.

Die Bühnenbeleuchtung (von Eric Scherrer und Yves Gross) mal als ausgewiesene Mitspielerin. Im Bild Sarina Hess. Foto: Freie Bühne Thurgau

 

Die rund einstündige Aufführung gibt im besten Sinne Rätsel auf, stellt Fragen, anstatt Antworten zu geben. Höchstens die, dass Zeiten der Verunsicherung und Selbstzweifel zwar hart sind, aber auch weiterbringen können. Manchmal hätte man der Inszenierung allerdings ein wenig mehr Schärfe gewünscht.

Weitere Vorstellungen

Donnerstag 27. August 2020., 20.00 Uhr
Samstag 29.A ugust 2020, 20.00 Uhr
Sonntag 30. August 2020, 17.00 Uhr

 

Alle Infos sind hier zu finden.

 

 

Kommt vor in diesen Ressorts

  • Bühne

Kommt vor in diesen Interessen

  • Schauspiel

Werbung

Wir lotsen dich durchs Thurgauer Kulturleben!

Abonniere jetzt unsere Newsletter! Oder empfehle unseren Service Culturel weiter. Danke.

Hinter den Kulissen von thurgaukultur.ch

Redaktionsleiter Michael Lünstroth spricht im Startist-Podcast von Stephan Militz über seine Arbeit bei thurgaukultur.ch und die Lage der Kultur im Thurgau. Jetzt reinhören!

Die «Tipps der Woche» #13/14

Unser «Service culturel» - die Highlights aus Magazin & Agenda - verpackt in unseren kompakten Newsletter. Immer montags in deiner Mailbox. Oder hier zum Nachlesen:

Kultur für Klein & Gross #18

Unser Newsletter mit den kulturellen Angeboten für Kinder und Familien im Thurgau und den angrenzenden Regionen bis Mitte Mai 2024.

#Kultursplitter - Agenda-Tipps aus dem Kulturpool

Auswärts unterwegs im März/April - kuratierte Agenda-Tipps aus Basel, Bern, Liechtenstein, St.Gallen, Winterthur, Luzern, Zug und dem Aargau.

Die Theaterwerkstatt Gleis 5 sucht Verstärkung!

Gesucht wird eine Person für die Buchhaltung und Administration, ca. 50%. Weitere Informationen hier:

Thurgauer Forschungspreis

Noch bis zum 31. März läuft die Ausschreibung des mit 15’000 Franken dotierten Forschungspreises Walter Enggist.

Literaturpreis «Das zweite Buch» 2024

Die Marianne und Curt Dienemann Stiftung Luzern schreibt zum siebten Mal den Dienemann-Literaturpreis für deutschsprachige Autorinnen und Autoren in der Schweiz aus. Eingabefrist: 30. April 2024

Atelierstipendium Belgrad 2025/2026

Bewerbungsdauer: 1.-30. April 2024 über die digitale Gesuchsplattform der Kulturstiftung Thurgau.

Recherche-Stipendien der Kulturstiftung

Bewerbungen können bis 31. März 2024 eingereicht werden.

Ähnliche Beiträge

Bühne

Viel Liebe zwischen den Zeilen

Premiere in der Theaterwerkstatt Gleis 5: Giuseppe Spina und Judith Bach spielen ab dem 8. März in „Love Letters“. mehr

Bühne

Ein bisschen Zucker für Musical-Fans

Die Zentrumbühne Bottighofen präsentiert ab dem 13. April die Musical-Version von «Manche mögen's heiss». «Es wird charmant», verspricht Regisseurin Astrid Keller. mehr

Bühne

Odyssee durch 20 Jahre Comedy Express

Das inklusive Theater Comedy Express zelebriert ab 1. März sein zwanzigjähriges Bestehen mit einer neuen Produktion. mehr