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von Maria Schorpp, 30.09.2019

Musik der Zeit

Musik der Zeit
Happy End? Szene aus „Klärli und der belgische Pilot“ mit Cornelia Montani, Joe Fenner und Daniel Schneider (am Saxophon). | © Regina Jäger

In der Frauenfelder Theaterwerkstatt Gleis 5 kam mit „Klärli und der belgische Pilot“ die wahre Geschichte eines Lebens wie im Roman auf die Bühne. Klärlis Enkelin Cornelia Montani, Joe Fenner und Daniel Schneider erspielten sich die Gunst des Publikums insbesondere als grossartig Musizierende.

Man muss überlegen, um dahinterzukommen, was uns heute noch an Klärlis Leben fasziniert. Gut, um in den 1930er Jahren mit zarten 19 von einem Innerschweizer Dorf für die erste Anstellung nach Brüssel zu gehen, brauchte es mehr Mut als heute. Dort den ersten Mann ihres Lebens als die Liebe ihres Lebens zu erkennen, brauchte es überhaupt grosse Vertrautheit mit sich selbst. Wieder daheim im Dörfli sich mit den Umständen abzufinden und das Leben als Arztehefrau anzupacken, brauchte es Zuversicht. Was danach folgt im Leben von Claire Jung-Locher, taugt zum Roman. Aber auch darin besteht nicht ihr Geheimnis.

Der unbändige Wille, das Leben anzupacken

Im musikalischen Erzähltheaterstück „Klärli und der belgische Pilot“, das auf seiner Tournee in der Frauenfelder Theaterwerkstatt Gleis 5 Station gemacht hat, wird das Publikum mitgenommen auf eine Reise ins Innere einer Frau, die ganz einfach – lebt. Dass sie mit kurz geschnitten Haaren und Hosen tragend durchs Dorf flaniert, diese kleinen Provokationen in den 30er Jahres des vorigen Jahrhunderts sind vergleichsweise lediglich ein Abklatsch eines unbändigen Willens, das Leben anzupacken. Dabei tritt Cornelia Montani, die wirkliche Enkelin Klärlis, in der Rolle ihrer Grossmutter eher verhalten auf.

Die Regie von Paul Steinmann deutet vornehmlich an. Das Bühnenbild von Mona Fischer Schwitter ist im Wesentlichen ein Schrank, aus dem wie aus einer Puppenstube kleine Requisiten geholt werden. Die Musik spielt tatsächlich anderswo: nebendran, da wo Daniel Schneider mit den Saxophonen sitzt und wo sich Joe Fenner auch der Klarinetten bedient, während Cornelia Montani ihr Akkordeon zum Singen bringt.

Die Musik spielt eine grosse Rolle: Joe Fenner, Daniel Schneider und Cornelia Montani in der Produktion „Klärli und der belgische Pilot“ in der Theaterwerkstatt Gleis 5. Bild: Regina Jäger

Joe Fenner schlüpft in etliche Rollen in dieser Produktion 

Tatsächlich übernimmt die Musik den Part der Gefühle, erzeugt die Atmosphäre und lässt die Zeit ihre Kapriolen schlagen. Joe Fenner, der zum Team der Theaterwerkstatt Gleis 5 gehört, schlüpft in dieser Produktion von ThiK Theater im Kornhaus Baden und Cham Tourismus gleich in mehrere Rollen. Er ist der Pilot, der Arzt und Ehemann, sogar die Mutter von Klärli und er ist Musiker und Sänger. Da steht er also als belgischer Pilot Jean eines Tages im Café in Brüssel vor Klärli. Als die wieder heim in die Schweiz muss, ist sie sicher, bald wieder zurückzukommen.

Tatsächlich geht es aber so weiter: Als sich der Landarzt Emil Jung um sie bemüht, ist die Mutter selig, eine gute Partie und ein Schweizer, was man beides vom belgischen Piloten nicht sagen kann. Als Klärli herausbekommt, dass die Mutter die Briefe von Jean abfängt, ist es schon zu spät. Klärli ist zu verstrickt in die neuen Umstände. Die Hochzeit findet statt.

Das echte Klärli: Claire Jung-Locher. Bild: privat

Wunderbare Lieder und schillernde Melodien

Cornelia Montani spielt diese Frau, erzählt von ihr, liest aus ihrem Tagebuch und ersingt sich ihre Seele. Martin Schumacher hat wunderbare Lieder für die Produktion komponiert, mitreissende, melancholische, schillernde Melodien, die zunächst den Rhythmus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, dann der Nachkriegsjahre aufnehmen. Zuweilen sind aus der Grossstadtmusik folkloristische Anklänge herauszuhören.

Dabei können sich auch in die schwungvollste Passage, mal mehr, mal weniger offensichtlich verquere Tonlagen einschleichen. Dem Ritt auf dem Vulkan geschuldet, der für den Arzt Emil Jung zu Alltag geworden ist. Nach aussen hin erfolgreich Arzt und Erfinder von Medikamenten und einer Schönheitscreme, der sich ein „Cottage“ leistet, der eine schöne und überaus tüchtige Frau und gelungene Kinder sein eigen nennt. Allein in seinem Arbeitszimmer setzt er sich regelmässig die Morphium-Spritze.

Spätestens jetzt beginnt dieses unwirklich erscheinende und doch verwirrenderweise stattgefundene Roman-Leben. Alles beruht auf der Biografie „Sei lieb mit Klärli“ von Clairelise Montani, der Tochter des Klärli und Mutter von Cornelia Montani. „Sei lieb mit Klärli“ steht auch auf einem der Zettel, auf denen der Arzt Klärlis Verfehlungen und seine Selbstermahnungen notiert. Aus dem liebenden Ehemann ist ein getriebener Tyrann geworden, der auch vor körperlichen Übergriffen nicht Halt macht.

Video: Trailer (Teresa Renn) zum Stück

In New York, dem Königshof des modernen Märchens

Das alles wird berichtet, dargestellt, intoniert, aber nicht bewertet. Ein Paar, das alles richtig machen wollte, aber doch miteinander an seine Grenzen gekommen ist. Da ist es überhaupt nicht mehr wie im Roman, sondern wie im wirklichen Leben, das in solchen Situationen eine Antwort einfordert. Die Klärli nicht schuldig bleibt. Immer wieder gibt sie neue Antworten, wird Beauty-Directrice in Lugano, schliesslich landet sie in New York, dem Königshof des modernen Märchens. Immer natürlich begleitet von der Musik der Zeit.

Und der belgische Pilot Jean? Jetzt wird es wirklich pilcheresk. Als Witwe kriegt sie raus, dass er in Marokko lebt, mittlerweile Professor und selbstverständlich auch Witwer. Dem Anstand ist also Genüge getan. Und so lebten sie glücklich bis an ihr Ende – man wünscht es ihnen zumindest.

Weitere Aufführungen: Das Stück geht auf Tournee. Alle Daten dazu gibt es auf der Internetseite von Cornelia Montani

Glückliche Familie? Claire Jung-Locher und ihr Mann Emil Jung mit den Kindern. Bild: Privat

 

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