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von Brigitte Elsner-Heller, 09.03.2020

Nur mal kurz den Mond pflücken

Nur mal kurz den Mond pflücken
Einen Text „performen“, ohne sich selbst in den Mittelpunkt zu rücken: Das gehört auch zur Kunst Simone Lapperts. | © Brigitte Elsner-Heller

Anlässlich der Weinfelder Buchtage las die Schweizer Autorin Simone Lappert aus ihrem Roman „Der Sprung“, der für den Schweizer Buchpreis nominiert war. Eine von Lyrik inspirierte Prosa, in der die Ambivalenzen in der Gesellschaft, wie auch in jedem Einzelnen, Ausdruck finden.

Es war einmal. So fingen die Erzählungen einst an, und sie waren Fiktionen, in denen es doch um unverbrüchliche „Wahrheiten“ ging. Verlässlich war der Wolf böse, die Prinzessin reinen Herzens und der Frosch – verlassen wir den Pfad hier besser. Ernst zu nehmende Literatur von heute handelt und lebt dagegen von Ambivalenzen, und lineare Erzählungen befriedigen Leserinnen und Leser oft nicht mehr. Die Komplexität des Handelns und Erlebens ist auch hier sichtbar gestiegen.

Literatur zeigt Präsenz

Simone Lappert ist unter diesen Prämissen eindeutig eine Autorin des Heute. Im vergangenen August hat sie ihren zweiten Roman „Der Sprung“ beim renommierten Diogenes Verlag herausgebracht, und „Zeit online“ sah sich veranlasst, sie dafür als „Aufsteigerin der Literatursaison“ zu bezeichnen. Zu überprüfen war die Ausstrahlungskraft ihrer Prosa nun anlässlich der Weinfelder Buchtage, und das mit dem aktuellen Kontext „Corona“: Desinfektion der Hände beim Einlass, Bestuhlung im Abstand von einem Meter.

Die etwa vierzig Zuhörerinnen und Zuhörer nahmen es gelassen, und Simone Lappert zeigte sich ohnehin rundum als Profi. Keine erkennbare Spur von Nervosität, was angesichts ihres gut gefüllten Terminkalenders nicht weiter wundert. Die 1985 in Aarau geborene Schweizerin, die in Zürich lebt, ist im Literaturbetrieb kein Mauerblümchen. Und im Vergleich zu Literaten früherer Generationen wird spürbar, dass öffentliche Präsenz nun einen anderen Stellenwert hat. Wenn Simone Lappert liest, ist sie auf zurückhaltende Art auch Performerin – nicht ihrer selbst, sondern der Figuren, die im Roman Träger  der geronnenen Gedanken der Schreiberin sind.

„Eine schöne Metapher auf das Leben, auf Krisen.“

Simone Lappert meditiert über die Begrifflichkeit „Störung“ (Bild: Brigitte Elsner-Heller)

Der fiktive Roman, der sich an eine reale Begebenheit anlehnt, folgt zehn Figuren, deren Leben aus dem Tritt gebracht wird durch Manu, die an der Dachkante steht und sich offenbar hinunterstürzen will. Simone Lappert erläutert den Aufbau des Romans in drei Teile – den Tag „davor“, den ersten und zweiten Tag des Ereignisses – , wobei dazwischen Sequenzen geschaltet sind, in denen die Perspektive Manus aufgegriffen wird. Simone Lappert wird noch konkreter: „Ich wollte die Situation aufbrechen durch die Figuren und dabei nicht nur zeigen: Das ist meine eigene Moral.“

Die Grenzsituation: Simone Lappert steht auf

Zuvorderst also Manu. Sie ist diejenige, die im Zentrum steht, um die es aber vielleicht sogar nur indirekt geht. Sie ist das Auge des Orkans“, erklärt Simone Lappert einmal vieldeutig in einer der Lesepausen. Manu steht also an der Dachkante eines Hauses, während sich unten eine Menschenmenge sammelt.

Ein spannungsgeladener Augenblick, in den die Autorin überraschend einführt: Simone Lappert steht auf, um den Prolog zu rezitieren. Auswendig, mit ruhiger, klarer Stimme, die nichts Zaghaftes transportiert: „Bevor sie springt, spürt sie das kühle Metall der Dachkante unter den Füßen. Eigentlich springt sie nicht, sie macht einen Schritt ins Leere, setzt den Fuß in die Luft und lässt sich fallen, mit offenen Augen lässt sie sich fallen, will alles sehen auf dem Weg nach unten, alles sehen und hören und fühlen und riechen, denn sie wird nur einmal so fallen, und sie will, dass es sich lohnt ...“

Fast unterschwellig schwingt der Rhythmus des Textes mit und ja, das bringt die Autorin klar in die Nähe der Lyrik, in der sie ja auch zu Hause ist. Erstaunlich nur, wie souverän der Duktus ihrer Stimme ist, wieviel Kraft sie damit der Person zugesteht, deren Leben so nachhaltig „gestört“ ist. Und sie bekundet so etwas wie Solidarität, denn wenn sie es Manu schon zumute, an der Dachkante zu stehen, sei es nur fair, das selbst auch ungesichert vorzutragen.

Simone Lappert liest ruhig und doch kraftvoll. Fast unmerklich legen sich Rhythmen über den Text. Bild: Brigitte Elsner-Heller

Figuren repräsentieren Leben

Aber ist der Sprung „nur“ eine Fiktion innerhalb der Fiktion? Simone Lappert stellt andere Figuren ihres Romans vor, bevor sie diesen Punkt fast en passant gegen Ende der Lesung streift. Egon zum Beispiel, den ehemaligen Hutmacher, der „ungeplant ins Buch geraten“ ist, weil er sich „meine Sympathie erschlichen“ hat, wie Simone Lappert sagt. Er sitzt in Roswithas Café, in dem auch andere der Protagonisten ein- und ausgehen.

Oder Finn, mit dem Manu erst seit kurzem befreundet ist. Er ist Fahrradkurier, und Dienstag ist der Tag, an dem Schweineaugen in die Augenklinik transportiert werden müssen. Wobei er von Radtouren durch die USA träumt. Edna dagegen ist eine Frau ohne Illusionen, der Krampfadern und Zigaretten zugeschrieben werden. „Nicht noch einmal ...“ wird sie denken, als sie die Frau auf dem Dach erblickt.

Astrid, Manus Halbschwester, ist die letzte Figur, die Simone Lappert ihren Zuhörerinnen und Zuhörern vorstellt. Eine Politikerin, die Angst um ihre Karriere hat, und die Manu vor zwei Jahren das letzte Mal gesehen hat. An den Ort des Ereignisses gerufen, verharrt sie in ihrem Wagen. Denkt an die Kindheit, in der sie mit Manu heimlich auf dem Dach gesessen hat. Daran, dass Manu als Sechsjährige versucht hatte, von dort aus den Mond zu pflücken.

Simone Lapperts zweiter Roman, der 2019 bei Diogenes erschien, war für den Schweizer Buchpreis nominiert. Bild: Brigitte Elsner-Heller

Über Störungen

„Es ist absolute Spekulation, ob sich Manu umbringen kann“, sagt Simone Lappert dann mit einer Geste, die Verwunderung ausdrücken kann oder am Ende sogar so etwas wie einen Aufbruch andeutet. Interessant auch, dass sie Manu Biologin und Gärtnerin sein lässt, „Störgärtnerin“. Wobei der Begriff „Stör“ mehrdeutig ist, jedoch mit „Störung“ zusammenhängt – ein Begriff, der ursprünglich als Titel geplant war.

„Auf Stör gehen“ meinte, in Bewegung bringen oder aufwirbeln, betraf aber auch Handwerker, die gegen das Niederlassungsgebot verstiessen. In der Biologie ist „Störung“ eines Habitats zudem oftmals mit einem Anwachsen der Vielfalt verbunden, der Diversität. „Eine schöne Metapher auf das Leben, auf Krisen“, fasst Simone Lappert diese unterschiedlichen Aspekte zusammen.

Simone Lappert wirbelt jedenfalls mit scheinbar grosser Selbstverständlichkeit Dinge durcheinander. Ihre Spekulationen sind erhellend, auch oder gerade weil sie viel verbergen. Interessant.

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