von Brigitta Hochuli, 31.08.2012
„Oft zu viel Macht- statt Sachpolitik“

Die Volksabstimmung zur «Musikalischen Bildung» ist auch im Thurgau wichtig. Andreas Schweizer, Präsident des Verbandes Musikschulen Thurgau, sagt warum.
Interview: Brigitta Hochuli
Am 23. September wird eidgenössisch über den Gegenentwurf des Bundes zur Volksinitiative «jugend + musik» abgestimmt. Die Initiative war am 18. Dezember 2008 mit 154'193 Unterschriften eingereicht worden. Die parlamentarische Debatte dauerte von April 2010 bis diesen Frühling. Am 16. März wurde der Gegenentwurf in der Schlussabstimmung im Nationalrat mit 156:31 Stimmen bei 8 Enthaltungen und im Ständerat mit 31:6 Stimmen bei sechs Enthaltungen angenommen. Der neue Verfassungsartikel 67a legt fest, dass Bund und Kantone gemeinsam für den Musikunterricht an Schulen, für den Zugang zum Musizieren für Kinder und Jugendliche und für die Begabtenförderung zuständig sind.
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Herr Schweizer, gleich wie die Sportförderung soll auch die Musikförderung in der Bundesverfassung verankert werden. Was sind die wesentlichen Unterschiede zwischen der Abstimmungsvorlage und den ursprünglichen Forderungen der Initiative «jugend + musik»?
Andreas Schweizer: Zu 90 Prozent erfüllt der Gegenvorschlag des Bundes die Forderungen des Initiativkomitees. Er hat das Hauptmerkmal auf dem Primat der Bildungshoheit der Kantone. Beim Sportartikel in der Bundesverfassung war dies seltsamerweise nie und nimmer ein so grosses Thema.
Warum eigentlich nicht?
Andreas Schweizer: Der Sport war von je her stark mit dem Militär verknüpft, die Kantone hatten zwar früher die Militär-Hoheit, aber da sah man bald ein, dass dies nicht sinnvoll ist. Bei der Bildung geht es nun etwas länger, die Kantone geben nicht gerne Kompetenzen ab. Hinzu kommt, dass im Bereich der musikalischen Bildung noch ein Defizit in der ganzen Lobbyarbeit besteht. Die Diskussionen um die Initiative haben dieser Sache nur gut getan. Man hat eingesehen, dass man zu den Menschen gehen muss. Denn es geht ja schliesslich um Basisarbeit und Breitenförderung.
Wie sieht denn die aktuelle Situation der Musikförderung im Thurgau aus und was erachten Sie in unserem Kanton als besonders dringend?
Andreas Schweizer: In unserem Kanton braucht es eine bessere Vernetzung und mehr Qualität in der musikalischen Bildung. Wir sind grundsätzlich auf gutem Weg. Vor allem in der Begabtenförderung - nehmen wir einmal das Beispiel auf Sekundarschulstufe I - gelten wir national als Pioniere. Aber auch da muss noch besser zusammen gearbeitet werden können. Begabtenförderung ohne Breitenförderung macht zudem nicht viel Sinn. In der Breitenförderung sind in unserem Kanton Defizite vorhanden. Mit neuen Musikschulformen sollen vermehrt bildungsferne Gesellschaftsschichten erfasst werden, was zum Beispiel bezüglich der Integrationsarbeit wichtig ist. An einzelnen Orten im Thurgau ist die Zusammenarbeit immer noch mangelhaft, so kann die Zusammenarbeit zwischen Musikschulen und Musikgesellschaften oder zwischen Musik- und Volksschule noch verbessert werden.
Neue Musikschulformen? Was muss man sich darunter vorstellen?
Andreas Schweizer: Die Musikschule Weinfelden verrichtet diesbezüglich viel Denkarbeit. Wir wollen ein wenig weg kommen vom traditionellen Einzelunterricht und stellen uns einen Unterricht vor, der mehr Gruppenanteil hat. Wir suchen nach neuen Modellen und investieren dabei viel Zeit. Denn Kinder lernen viel von Kindern, eine Gruppe hat viel Motivationskraft.
Jetzt beginnt ja bald der Abstimmungskampf. Sind Sie finanziell dafür gewappnet und wie und mit wem organisieren Sie sich?
Andreas Schweizer: Im Initiativkomitee sind alle 17 nationalen Verbände vertreten. Diese Verbände arbeiten je über ihre kantonalen Verbände an der Basis. Parallel haben wir in jedem Kanton nun einen politischen Stützpunkt mit Personen aus allen Parteien. Finanziell hat der Verband Musikschulen Thurgau die Budgetvorgaben mehr als erfüllt. Leider ist dies nicht in allen Kantonen so.
Und wie hoch sind diese Budgetvorgaben?
Andreas Schweizer: National sind es 1,5 Millionen Franken. Der Verband Musikschulen Thurgau speist das Geld national ein und hat sein Sammelziel bereits übrschritten. Der Kantonalverband trägt mit 2000 Franken dazu bei, von Privaten und Musiklehrpersonen sind zusätzlich 5000 Franken zusammengekommen. Aber natürlich nehmen wir sehr gerne weitere Spenden entgegen.
Zum Gewinnen braucht es auch die politische Unterstützung. Auf schweizerischer Ebene hat die FDP die Nein-Parole gefasst.
Andreas Schweizer: Die FDP Schweiz hat sehr knapp entschieden. Nationalrat Filippo Leutenegger aus Zürich war hier die treibende Kraft, vielleicht hatte er in den vielen Diskussionen um das Fluglärmdossier sein Musikgehör verloren. Die nationalen Parteien GLP, EVP fassten bereits die JA-Parole, Grüne und SP ziemlich sicher auch, BDP und SVP sind noch offen.
Wie sieht es im Thurgau aus?
Andreas Schweizer: Im Thurgau fassen die Parteien in den kommenden Wochen die Parolen. Ich selber werde in einigen Parteien an den Delegiertenversammlungen Referate halten, alle Parteien haben jemanden eingeladen. Das Thema musikalische Bildung wird – trotz der beiden Strassenprojekte – sehr ernst genommen. Dies freut mich, können wir doch mit einer guten und breiten Musikerziehung für unsere zukünftige Gesellschaft viel Gutes tun.
Um eine Volksabstimmung zu gewinnen, braucht es neben Geld auch ein Argumentarium.
Andreas Schweizer: Ja, und deshalb hat die Präsidentenkonferenz des Verbands Musikschulen Thurgau im letzten Winter Vision und Leitbild Bildung Musik Thurgau verabschiedet. Dieser Fächer zeigt auf, wie wertvoll die musikalische Bildung für unsere Gesellschaft ist und welche wichtige Rolle dabei die Musikschulen spielen oder spielen könnten.
Am 1. September ist Tag der Musik. Da tritt zum Beispiel das Blue Monkey Sax Ensemble auf der Gasse in Frauenfeld auf. Sind noch weitere Aktionen geplant?
Andreas Schweizer: Alle sind aufgerufen, den Thurgau am 1. September zu einem klingenden Kanton zu machen. Bei den Musikschulen ist mir wichtig, dass diese hinaus zur Bevölkerung gehen. Konzerte im geschützten Rahmen des Musikschulzentrums sind dafür nicht zweckmässig. Das Blue Monkey Sax Ensemble ist so auf dem richtigen Weg. Vielen Dank an Andy Reinhard!
Noch eine heikle Frage. Der neue Verfassungsartikel hält fest, dass der Bund Vorschriften erlässt, wenn sich die Kantone nicht über die Ziele des Musikunterrichts an Schulen einigen können - bietet das nicht sehr viel versteckten Zündstoff?
Andreas Schweizer: Im aktuellen Entwurf zum Lehrplan 21 legt die Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) für den Musikunterricht an der Volksschule klare Ziele vor. Wenn dies so qualitativ umgesetzt werden kann, dann ist dies für die Musikschulen eine sehr gute Basisarbeit. Sorge bereiten mir die verkürzten Unterrichtsgefässe Musik an den Pädagogischen Hochschulen sowie die zahlreichen Studenten, welche das Fach Musik gar nicht mehr abschliessen. Hier besteht Handlungsbedarf - und er steht im direkten Zusammenhang mit den Musikschulen als Kompetenzzentren Musik. Wie viel Support soll, kann, darf es denn für die Volksschule sein? Wollen wir vermehrt Fachlehrer oder wird die Idee des Klassenlehrers auf Stufe Primarschule wieder mehr gestärkt? Im Ganzen stört mich manchmal, dass oft zu viel Macht- statt Sachpolitik gemacht wird. Wenn – wie in jedem Frühling – jeweils 500 Primarschülerinnen und Primarschüler in die Musikschule Weinfelden kommen und mit leuchtenden Augen das erste Mal ein Musikinstrument in der Hand halten, zeigt das eindrücklich, dass der Verfassungsartikel „Musikalische Bildung“ ein deutliches Ja des Schweizer Stimmvolks verdient.
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Tag der Musik am 1. September
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● Weitere Informationen auf www.musikinitaitve.ch
● Kontakt und Leitbild Bildung Musik Thurgau: www.musikthurgau.ch
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Zur Person
Andreas Schweizer ist im Kanton Thurgau aufgewachsen, besuchte das Lehrerseminar Kreuzlingen, studierte Musik in Winterthur und Zürich, bildete sich in den Bereichen Musik, Management und Führung weiter. Nach sechs Jahren Voll- oder Teilzeitlehrtätigkeit als Primarlehrer leitete er 18 Jahre lang die Musikschule Untersee und Rhein, bzw. seit 1999 die Musikschule Weinfelden. Seit 1996 Mitglied des Vorstands des Verbands Musikschulen Thurgau, seit 2001 als Präsident. Arbeitet in diversen kantonalen und nationalen Arbeitsgruppen mit. Andreas Schweizer ist auch Kursleiter bei Jugend + Sport und gibt als Hobbys Bergsteigen, Sportklettern und Skitouren an. (pd)

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