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von Maria Schorpp, 10.08.2021

Rebell als braver Untertan

Rebell als braver Untertan
Der Staat ist pleite, die Menschen haben nichts zu essen und das alles wegen der krankhaften Eitelkeit des Kaisers. | © Oliver Gerber

Die diesjährige Märcheninszenierung „Des Kaisers neue Kleider“ der Schlossfestspiele Hagenwil holt sowohl die kleinen als auch die grösseren Kinder ab.

„Ich hab nichts anzuziehen.“ Der verzweifelte Ausruf angesichts eines proppevollen Kleiderschranks wird traditionell einer weiblichen Figur zugeschrieben. Heutzutage käme der Satz unter Sexismusverdacht – es sei denn, einer männlichen Figur kommt er über die Lippen. So hat es Florian Rexer gehalten, der ihn wohl zu schön fand, um ihn einfach unter den Tisch fallen zu lassen. In seiner Bearbeitung von Hans Christian Andersens Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ legt er ihn dem titelgebenden Herrscher mit dem krassen Klamottentick in den Mund. Der Staat ist pleite, die Menschen haben nichts zu essen und das alles wegen der krankhaften Eitelkeit des Kaisers.

„Der schöne Schein und wie er zu entlarven ist, geht in Zeiten von Supermodels und Instagram schliesslich alle an.“

Maria Schorpp

 

Ein Kaiser wie er im Buche steht

Die Entscheidung, dieses Kunstmärchen des dänischen Schriftstellers für das Kinderstück der diesjährigen Schlossfestspiele in Hagenwil auszusuchen, ist glücklich getroffen. Die Geschichte hat das Potenzial, wie in Hagenwil zu sehen ist, genauso die kleineren wie die grösseren Kinder jeweils in ihrer Welt abzuholen. Der schöne Schein und wie er zu entlarven ist, geht in Zeiten von Supermodels und Instagram schliesslich alle an.

Falk Döhler ist ein Kaiser, wie er im Buche steht: Kopf hoch, Brust raus und dann gravitätisch daherstolzieren. Da quiekt es belustigt im Publikum, kommt also an. Und es funktioniert insbesondere deshalb so gut, weil ihm mit dem vermeintlichen Schneider ein kerniger Volksvertreter kontrastreich zur Seite gestellt ist. Mischa Löwenberg spielt ihn sehr sympathisch als Rebell im Kostüm des braven Untertanen.

Der Kaiser (Falk Döhler) und seine Ministerin für Kleider (Rahel Roy). | Bild: Oliver Gerber

 

Die Hagenwiler Textfassung packt die betrügerischen und namenlosen Weber von Andersen in diesen hungrigen Bürger namens Daniel Schnyder. Dieser beschliesst, weil Not erfinderisch macht, beim Wettbewerb des Kaisers mitzumachen. Dabei geht es darum, für den Gekrönten das schönste Gewand der Welt zu schneidern. Der erste Preis besteht in einem Sack voller Gold.

Der Schritt von Schnyder zu Schneider ist nicht weit, sprachlich zumindest. Dass es dem Trickser dagegen an handwerklichem Können fehlt, gleicht er durch Chuzpe aus. Wer so selbstgefällig ist wie dieser Kaiser, so wohl der Gedanke dahinter, ist irgendwie auch blind.

Der vermeintliche Schneider (Mischa Löwenberg) bewirbt sich beim Kaiser (Falk Döhler) für den Wettbewerb um das schönste Gewand. Bild: Oliver Gerber

Der vermeintliche Schneider (Mischa Löwenberg) bewirbt sich beim Kaiser (Falk Döhler) für den Wettbewerb um das schönste Gewand. | Bild: Oliver Gerber

 

So macht Schnyder dem Kaiser tatsächlich weis, die Kleider aus seiner Schneiderei seien nur für die Gescheiten und für ihr Amt Befähigten sichtbar. Was umgekehrt bedeutet: Wer sie nicht sieht, ist dumm und untauglich. Was eine Kettenreaktion auslöst: Nicht nur der Kaiser muss verhehlen, dass er null sieht von den angeblich prachtvollen Stoffteilen, auch sein Beamtenvolk kommt unter diesen Umständen nicht um den Verdacht herum, dass es eigentlich untauglich ist für seine Stellung. Geschweige denn, dass es den Mumm hätte, den Schwindel als solchen aufzudecken.

„Der Mitmachaufruf von der Bühne herunter, den Schneider, der keiner ist, bei seiner Hinterlist zu helfen, wird mit grosser Begeisterung aufgegriffen.“

Maria Schorpp

Was für ein Hallo im Innenhof des Wasserschlosses

Eigentlich gar nicht so einfach für die Kleinen, zu verstehen, dass hier von Dingen die Rede ist, die es gar nicht gibt, wobei alle so tun, als gäbe es sie. Umso erstaunlicher, was für ein Hallo den Innenhof des Hagenwiler Wasserschlosses beherrscht. Der Mitmachaufruf von der Bühne herunter, dem Schneider, der keiner ist, bei seiner Hinterlist zu helfen, wird mit grosser Begeisterung aufgegriffen.

"Der Kaiser hat ja gar nichts an!" (naja, eine Badehose schon)... | Bild: Oliver Gerber

 

Es sind aber auch nette Sachen für die etwas Grösseren bis ganz Grossen dabei. Da ist von einem Bernardo Lutschi, einem Modedesigner aus Amriswil, die Rede, und ähnliche kleine Spässchen sind eingestreut. Eine kleine Aufmerksamkeit für die mitgekommenen Betreuungspersonen.

So tappt der Kaiser, der von der Kostümbildnerin Barbara Bernhardt zuvor wirklich schick mit knallrotem Frack und wunderbaren Schluppenhemden angezogen worden war, in die Falle. Das Pantomimenspiel beim Einkleiden mit den vermeintlich unsichtbaren Kleidungsstücken gerät zum Sinnbild der menschlichen Bereitschaft, eine Scheinwelt aufrechtzuerhalten, wenn nur das eigene Ego keinen Schaden nimmt. Und natürlich ist es ein Heidenspass.

Ein Schneider, der keiner ist (Mischa Löwenberg, links), eine Tochter des Kaisers, die es nur in Hagenwil gibt (Rahel Roy, Mitte), und ein Kaiser mit Kleidertick (Falk Döhler, rechts). | Bild: Oliver Gerber

 

Florian Rexer hat dem Kaiser obendrein eine Tochter dazugeschrieben, die unter ihrem oberflächlichen Vater leidet und den untertänigen Spassvogel bei seinen kleinen Gemeinheiten unterstützt. Rahel Roy, die daneben – wie die anderen auch – mehrere Rollen spielt, geht insbesondere als kaiserliche Ministerin für Kleider ganz im komischen Fach auf, was das junge Zielpublikum zu goutieren weiss.

Ein kluges Happy End

Das Ende ist ebenfalls eine Hagenwiler Spezialität. Es gibt nämlich ein sehr kluges Happy End. Was macht der Kaiser, als ein Kind bei der Parade ruft, er habe ja gar nichts an (naja, eine Badehose schon)? Nach anfänglichem Entsetzen beginnt er zu lachen. Über sich. Über seine Blindheit. Über seine Feigheit.

Wie die anderen auch hat Falk Döhler mehrere Rollen zu meistern. Hier ist er als musizierender Erzähler zu sehen. | Bild: Oliver Gerber

Das ging leider in der Schlussphase der Premierenvorstellung etwas unter und dürfte durchaus mehr Raum einnehmen. Ist es doch das, was die Welt in der realen Gegenwart bräuchte angesichts des einen oder anderen grössenwahnsinnigen Präsidenten mit Despotenallüren. Einen, der den Mut hat, sich selbst und seine Lächerlichkeit zu erkennen. Aber das ist das Märchen für die Grossen.

Viel Applaus.

 

 

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