von Inka Grabowsky, 16.09.2019
Schweben über dem Bodenlosen

Voller Erfolg und volle Häuser beim Literaturwochenende am Untersee: Zum Abschluss unterhielt Karl-Heinz Ott die Zuhörer mit seinem Roman „Und jeden Morgen das Meer“
Zwanzig Stühle und zwei Kanapees drängen sich in der Wohnstube von Mina und Ernst Allenspach zwischen Klavier und Sekretär. Der Raum ist voll, und noch immer muss der Gastgeber neue Sitzgelegenheiten heranschaffen. Den Abschluss des elften Literaturwochenendes am Untersee will sich offenkundig niemand entgehen lassen. „Alle Lesungen waren gut besucht“, sagt Irene von Ballmoos, die nach einem Jahr Pause gemeinsam mit Barbara und Felix Müller die Leitung des Programms übernommen hatte. „Viele Besucher sagten uns, sie seien froh, dass das Wochenende wieder stattfindet.“
Die Lesungen am Untersee finden immer in historischen Häusern statt – diesmal im „Steinhaus“ in Tägerwilen. Allenspachs waren schon in den Anfängen des kleinen Festivals vor zehn Jahren einmal dabei. „Nachdem ein anderer Ort weggefallen war, hat uns Gemeindepräsident Markus Thalmann um Hilfe gebeten, und wir haben gern zugesagt“, so Ernst Allenspach. Er freute sich, dass das 200-jährige Steinhaus nach seiner Funktion als Metzgerei, Gaststube, Grundbuchamt und Notariat nun wieder einmal zur Bühne wurde.
Roman mit Bodenseebezug
Die Programmleiter hatten den Autor Karl-Heinz Ott gebeten, aus seinem vergangenes Jahr erschienenen Buch „Und jeden Morgen das Meer“ vorzulesen. Der Bodensee spielt darin als Kulisse eine grosse Rolle. Die Protagonistin hat hier über Jahrzehnte ein Hotel und Restaurant geführt, bis sie nach dem Selbstmord ihres Mannes zu neuen Ufern aufbrechen muss. „Ich kenne den See seit frühester Kindheit“, erklärt der Schriftsteller, der in Ulm geboren wurde und inzwischen in Freiburg im Breisgau lebt. „Jedes Jahr musste ich als kleiner Junge wegen meines Asthmas zu einem Spezialisten nach Zürich – der See war die erste grosse Wegmarke.“ Inzwischen ist er der Region auch familiär verbunden.
Die Lesung in Tägerwilen verband er mit einem Besuch beim Schwiegervater Martin Walser in Überlingen. In seinem Roman lässt er die zentrale Figur die bürgerliche Enge in der Weite der Landschaft spüren: „Auf einmal mochte sie diese Gegend nicht mehr, mit ihrem behäbigen See und ihrem träge machenden Wohlstand, den herausgeputzten Häuschen mit ihren niedlichen Zäunen, den Geranienfenstern, den zufriedenen Leuten und den Alpen im Hintergrund, die in ihrer grossmächtigen Starre auch noch fürs Majestätische sorgten.“
Video: Szene von der Lesung in Tägerwilen
Sonja Bräuning jauchzt innerlich vor Freude, dass sie spurlos nach Wales verschwunden ist. Hier führt sie ein heruntergekommenes Hotel für freies Logis und ein Taschengeld. Ott stellt dem lieblichen See das wilde Meer gegenüber. „Ich wollte verschiedene Welten zeigen - ein ärmlicher abgeschiedener Ort ist genau das, was die Frau in ihrer Situation braucht.“ Der Autor hat vor Ort in Wales Lokalkolorit aufgesogen. Ein reales Vorbild für den Küstenort gebe es aber nicht, betont er.
Auch das Restaurant am Bodensee ist erfunden, nicht aber die Situation, in der sich die Protagonistin befindet. „Ich bin lange Jahre immer wieder in einem Hotel gewesen, dessen Restaurant mit einem Stern ausgezeichnet war. Dann wurde der Stern aberkannt, der Wirt beging Suizid, seine Ehefrau stand vor dem Nichts. Diese Geschichte ging mir nicht mehr aus dem Kopf.“ Gleichzeitig seien Erlebnisse als seiner eigenen Kindheit wieder hochgekommen, als er im Alter zwischen 9 und 13 auf einem katholischen Internat war. Diese beiden Themen verwob er zum Roman und würzte sie mit Ironie und Situationskomik. Bei seiner Lesung dankte es ihn das Publikum mit Lachern an den richtigen Stellen.
Leistungsgesellschaft vs. Sinn des Lebens
Vordergründig kritisiert der Roman die skurrilen Verhältnisse in der Spitzengastronomie, in der wenige Stars viel verdienen, dabei aber völlig abhängig von der veröffentlichten Meinung sind und nicht selten am Ruhm oder seinem Verblassen zerbrechen. Doch das Werk auf diesen Aspekt zu reduzieren, würde ihm nicht gerecht. Die Romanfigur sucht nach dem Ende ihres konventionellen bürgerlichen Lebens aktiv nach dem Sinn des Lebens. Fündig wird sie nicht: „Vielleicht gibt es eine Vorsehung. Vielleicht erledigt das Schicksal einfach sein Geschäft“, heisst es im Buch. In Tägerwilen erklärte Karl-Heinz Ott: „Bei Jedem kann immer von jetzt auf gleich das Leben wegbrechen. Etwas pathetisch gesagt: Wir schweben alle über dem Bodenlosen.“
Termine: Auch nach dem Ende des Literaturwochenende wird am Untersee weitergelesen: Am Samstag, den 21. September 2019, um 20.00 Uhr präsentiert Andreas Lukoschik in Ermatingen im Haus Breitenstein bei Margit und Jens Koemeda Ausschnitte aus seinen Kreuzfahrt-Anekdoten: „Schläft das Personal auch an Bord?“ und „Ist das Schiff schon mal untergegangen?“
Reservation: koemeda@bluewin.ch Karten Fr. 25.-

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