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von Anabel Roque Rodríguez, 23.11.2021

Was ist ein gutes Leben?

Was ist ein gutes Leben?
Vanessa Luorno und Mirjam Wanner aus dem Kuratorinnen-Team des Shed Eisenwerk. | © Anabel Roque Rodriguez

Die Herbstausstellung im Shed Eisenwerk fragt Künstler:innen nach ihren Wünschen. Und bekommt humorvolle, poetische und tiefgründige Antworten. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)

Die meisten von uns haben in den vielen Monaten der Pandemie über das Wesentliche nachgedacht. Was ist uns wichtig? Was braucht ein gutes Leben? Und was wünschen wir uns für die Zukunft?

Diese grundlegenden Fragen hat die Programmgruppe des Shed im Frauenfelder Eisenwerk in der Herbstausstellung gestellt und in einem Open Call Künstler:innen eingeladen, ihre Wünsche, Fantasien und Sehnsüchte in Werken einzureichen. Der Fokus sollte nicht rückwärts, sondern vor allem nach vorne Richtung Zukunft gerichtet sein.

Die Programmgruppe shed, bestehend aus Almira Medaric, Mirjam Wanner, Vanessa Luorno hat zum ersten Mal einen Open Call veranstaltet und war überrascht über die Vielseitigkeit und die vielen neuen Künstler:innen, die ihnen dadurch begegnet sind.

«Uns war es wichtig keine Corona-Ausstellung zu machen, die gab es zu Genüge während der Pandemie.»

Mirjam Wanner, Kuratorin

«Es war die erste grössere Ausstellung von uns zu dritt. Insgesamt haben sich rund 50 Künstler:innen beworben aus denen wir 37 ausgewählt haben. Durch den Open Call haben wir viele neue Künstler:innen kennengelernt. Uns war es wichtig keine Corona-Ausstellung zu machen, die gab es zu Genüge während der Pandemie und sie hatten auch ihre Berechtigung, aber viele Künstler waren weiter alleine in ihrem Atelier» erzählt Mirjam Wanner. Zu den Werken gehört jeweils immer auch ein Text, der näher auf die Wünsche und Zukunftsaussichten eingeht.

In der Ausstellung kommen sechs Themengebiete zusammen, die ein ziemlich rundes Bild von Menschen während der Pandemie ergeben. «Natur und Umwelt» spielt eine Rolle, es geht um «Biodiversität und Klimaveränderungen» und darum wie diese Einschnitte Lebewesen verändern. In diese Rubrik fällt beispielsweise David Buschs «Mehr Eulen» (2021). Das ist seine Antwort auf die Titelfrage der Ausstellung «Was wünschst Du Dir?».

David Buschs «Mehr Eulen» (2021). Bild: Anabel Roque Rodriguez

 

Ein Wunsch: Lehren aus der Pandemie auch für den Umweltschutz ziehen

In seinem Bewerbungstext erläutert er das etwas näher: «Mehr Eulen bedeutet, dass sich zur weltweit extremen Umweltzerstörung, eine gewisse Weisheit einstellen muss. Bei Wikipedia finden sich unter der «Liste der neuzeitlich ausgestorbenen Vögel» eine Reihe Eulen-, und Kauz-Arten, die eine schrumpfende Biodiversität aufzeigt bzw. nachweislich und folglich die Verarmung der Artenwelt attestiert.»

Es ist ein weiser Ansatz die Vernetzung einer Pandemie und die Veränderungen in der Umwelt gemeinsam zu denken, um über die Zukunft nachzudenken.

Über die Sehnsucht nach Reisen und Normalität

Covid hat uns gelehrt, dass wir in Gesellschaft leben und dies in den meisten Fällen auch genauso möchten. Es verwundert also wenig, dass sich als weitere Kategorie «Der Mensch als soziales Wesen» herauskristallisiert hat. So beschreibt Othmar Eder in seiner Videoarbeit «Feira da Ladra – Lisboa (2019)» seinen Sehnsuchtsort in Portugal. «Ich wünsche mir sehnsüchtig, dass ich bald wieder ohne Einschränkungen meine Freunde und Bekannte in Lissabon besuchen und auf der Feira da Ladra mit meiner Kamera auf Entdeckungs- und Beobachtungstour gehen kann».

In die gleiche Rubrik fällt auch die Arbeit von Sereina Kessler «Ghana Prints (2019/ 2021). Die Risographie zeigt einen Markt in Accra, den die Künstlerin kurz vor dem Ausbruch der Pandemie besucht hat. Die Fotos zeigen Menschen in ihrem alltäglichen Treiben, noch ohne Maske oder Abstandsregeln - ein bisschen wie ein Relikt aus einer anderen Zeit.

Sereina Kessler «Ghana Prints (2019/ 2021). Bild: Anabel Roque Rodriguez

 

Eine Ode an die Wildheit und gezeichnete Alltagsbeobachtungen

Der Mensch als soziales Wesen funktioniert aber nur mit bestimmten Konventionen. Auf diesen grundlegenden Werten in der Gesellschaft spielen die Selbstporträts von Andrea Zahler an in «No prejudice, please» (2019). In diesen scheint ihr die Geduld ausgegangen zu sein, denn das bitte im Titel ist durchgestrichen. Es ist eine Ode an die Wildheit und an die Freiheit, beides Begriffe die wir in den vergangenen Monaten neu durchdacht haben.

Nicht jede Arbeit kann zweifelsfrei einer Kategorie zugeordnet werden, aber das haben übergeordnete Sinneinheiten ja oft an sich. Elisabeth Nold Schwarz’ 25 Tusche-Skizzen «Menschen» (2018) könnten in den Bereich Absurdität und Spiel passen.

Die Künstlerin karikiert mit schnellem Strich und einer grossen Portion Humor Menschen bei unterschiedlichen Handlungen wie Händchen halten, Gähnen, den Hund Gassi führen und würde man nicht bemerken, dass die Skizzen vor der Pandemie entstanden sind, könnten sie auch als Beobachtungen aus unserem Alltag stammen, der häufig banaler und gleichzeitig komplizierter geworden ist.

Elisabeth Nold Schwarz’ 25 Tusche-Skizzen «Menschen» (2018) könnten in den Bereich Absurdität und Spiel passen. Bild: Anabel Roque Rodriguez

 

Das Künstler:innenleben unter der Lupe der Künstler:innen

Yvonne Lustrati ist gleich mit zwei Arbeiten im Bereich der Utopie vertreten. Zum einen mit ihrem «Pinkwalddickicht» (2014) einem dystopisch-apokalyptisch anmutenden Wald, der trotz der pinken Farbe bedrohlich erscheint. Zum anderen stellt sie auch ihre Codemachine 01Y (2021) aus. Die Maschine besteht aus allerhand unterschiedlichen Materialien und Leuchten und soll einen Beitrag dazu leisten eine einheitliche globale Sprache zu erschaffen, in der niemand diskriminiert wird - eine Art Esperanto 2.0.

Die Rubrik «Das Leben als Künstler» stellt sich die zentrale Frage «Was braucht ein Künstlerleben?» eigentlich und stellt hier ein paar intime Positionen aus. Lea & Adrian beantworten die Frage mit einer Art Künstlervorbild in Form von Ana Mendieta «Work no. 410 mendieta (2019)».

arttv.ch hat einen Videobeitrag zur Ausstellung gedreht

Verwurzelt, aber in was?

Die Arbeiten der kubanischen US-Amerikanerin sind tief biografisch und sinnlich. Mit elf Jahren wurde sie zum Schutz von ihrer regimekritischen Familie nach Iowa geschickt, wo sie 1972 ihr künstlerisches Schaffen begann. Die Zerrissenheit zwischen den Kulturen war lange Zeit Thema in ihrer Arbeit. Ihre Silueta Serie, auf die die Arbeit in der Ausstellung eingeht, zeigt die Silhouette ihres Körpers ohne uns ihren eigentlichen Körper zu zeigen.

Es ist ein Einschreiben ihres Körpers in die Natur, ein Versuch sich in der Fremde einen Platz zu beanspruchen, der aber nie ewig bleibt, da alle Arbeiten in dieser Land-Art Serie vergänglich sind. In Bezug auf die Frage «Was braucht ein Künstlerleben?», scheint es hier um intime Beziehungen zu gehen, die eine tiefe Verwurzelung brauchen, entweder in der künstlerischen Praxis oder in der Region, in der man sich aufhält (oder im besten Falle trifft beides zu).

Das Grab der unnrealisierten Arbeiten

Die erste gemeinsame Arbeit des Kollektivs rund um Jana Kohler, Tobias Rüetschi und Rémy Sax «Dead Works» (2021) gehört ebenfalls in letztgenannte Kategorie. Die meisten Künstler kennen, die unrealisierten Arbeiten, die noch in Schubladen oder im Atelier liegen. Während der Pandemie wurde häufig in den Sozialen Medien gescherzt, wie produktiv man nun sein könne, für die Meisten sah die Realität allerdings anders aus.

Die Arbeit besteht aus einem Friedhofsgrab mit Grabstein, in der Erde sind zehn Mini Särge mit Memory-Sticks vergraben, die unveröffentlichte beziehungsweise unrealisierte Werke der Künstler zeigen. Ein:e Käufer:in bekommt eine kleine Schaufel und kann dann nach Kaufabschluss mit der freien Lizenz der Werke, das Werk weiter nutzen.

Am Grab der unrealisierten Werke: Die erste gemeinsame Arbeit des Kollektivs rund um Jana Kohler, Tobias Rüetschi und Rémy Sax heisst «Dead Works» (2021). Bild Nadia Guddelmoni

 

Manchmal muss man sich von Ideen einfach trennen

«Dead Works» stellt spannende Fragen danach, wann ein Werk abgeschlossen ist: etwa mit einem Kaufvertrag? Und gibt auch Freiraum für eine Art Trauerarbeit, denn von manchen Ideen muss man sich einfach trennen. Der Mindestbetrag beläuft sich übrigens auf 200 Franken und trägt natürlich direkt zur Realisierung von weiteren Arbeiten bei.

Die Herbstausstellung im Shed schafft es mit Humor, Poesie und vielen Tiefgängen ein vielseitiges Gesellschaftsbild zu zeigen. Es macht Mut nach vorne zu Blicken ohne pathetisch zu sein. Hier geht es nicht um ein «zurück zur Normalität», sondern viel eher um die Frage, wie ein gutes kreatives Leben aussieht.

 

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