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«Was wir erinnern, erinnert an uns»

«Was wir erinnern, erinnert an uns»
Ein Roman über das Abschiednehmen und den Tod, aber nicht nur: Annina Haabs «Bei den grossen Vögeln» ist auch eine Geschichte über das Trügerische in Erinnerungen und Erzählungen. | © Canva

In ihrem berührenden Debütroman „Bei den grossen Vögeln“ stellt sich Annina Haab eine grosse Frage: Kann man angemessen Abschied nehmen von geliebten Menschen? Im Interview spricht sie über den Tod, das Wesen des Erzählens, trügerische Erinnerungen und warum Literatur nie wahrhaftig sein kann.  (Lesedauer: ca. 5 Minuten)

Frau Haab, Ihr Debütroman „Bei den grossen Vögeln“ ist die Geschichte einer Freundschaft zwischen Oma und Enkelin. Er ist aber auch ein Text über das Abschiednehmen. Wie gut sind Sie persönlich im Abschiednehmen?

Offensichtlich nicht so gut. Für mich war das auch ein Beweggrund, den Roman überhaupt zu schreiben. Genau deshalb lasse ich die Ich-Erzählerin in der Geschichte auf diese Reise gehen. Ich bin allerdings froh, dass sie ein paar Sachen durchspielt, die ich bislang nicht durchspielen musste.

Warum fällt es uns heute so schwer, Dinge loszulassen, Abschied zu nehmen?

Dinge loszulassen, finde ich nicht so schwer. Aber Menschen loszulassen oder anders formuliert, die Auseinandersetzung mit dem Tod, das fällt uns oft sehr schwer.

Woran liegt das?

Es ist einfach für viele Leute ein sehr belastendes Thema und die Gesellschaft bietet heute relativ viele Möglichkeiten, diesem Thema auszuweichen statt sich einer womöglich schmerzhaften Auseinandersetzung zu stellen. Aber vom Verlust getroffen werden wir dann trotzdem, womöglich noch viel härter.

Ist Schreiben und Erzählen für Sie auch eine Art, Abschied zu nehmen?

Es ist sicher eine Form, damit umzugehen, Abschied nehmen zu müssen. Das Schreiben an sich ist ja eher ein Festhalten, das kann tröstlich sein, aber es schützt einen nicht wirklich. Und die geschriebenen Texte muss man ja dann auch wieder loslassen. Schreiben ist für mich vor allem eine Form nachzudenken und sich auf mögliche Szenarien vorzubereiten.

„Schreiben ist für mich vor allem eine Form nachzudenken und sich auf mögliche Szenarien vorzubereiten.“

Annina Haab

Ihr Roman kann einen auch ganz schön durchschütteln, weil er einem zeigt, wie fragil und trügerisch die eigenen Erinnerungen sind. Woran kann man sich denn noch festhalten, wenn nicht an den eigenen Erinnerungen?

Wenn man sich darauf einlässt und es verinnerlicht, dass man jede Erinnerung selbst massgeblich mitgestaltet, dann kann man sich an der Erinnerung festhalten, die einem gerade passt, die einem in diesem Moment etwas gibt und etwas Gutes hat. Die Frage, wie es wirklich war, verliert dann ein bisschen an Wichtigkeit. Gleichzeitig gewinnt die Frage, wie es erzählt wird und was es bedeutet, an Wichtigkeit.

Ist Wahrheit also gar keine literarische Kategorie mehr? Ich finde, Sie erzählen mit Ihrem Roman auch eine Geschichte über die Unmöglichkeit wahrhaftiger Literatur, weil man als Erzähler echter Leben immer scheitern muss. Stimmen Sie zu?

Ja, klar, ich denke nicht, dass ein Leben erzählt werden kann. Meine Erzählerin hadert ganz fest damit. Für mich als Autorin ist es einfach wichtig, im Bewusstsein zu haben, das es so ist. Man kann Dinge beschreiben, aber man muss immer wissen, dass das nur eine eingeschränkte und momentane Sicht abbildet. Im Übrigen glaube ich nicht an so etwas wie eine wahrhaftige Literatur. Für mich spielen solche Kategorien auch gar keine Rolle mehr. In dem Moment, in dem ich Bilder schaffe aus Sprache, entsteht ohnehin etwas Neues und kein Abguss der Realität. Die Frage ist dann, ob es treffend ist, nicht ob es wahr ist.

„In dem Moment, in dem ich Bilder schaffe aus Sprache, entsteht ohnehin etwas Neues und kein Abguss der Realität.“

Annina Haab

„Was wir erinnern, erinnert an uns“ heisst eine Kapitelüberschrift des Romans. Können wir andere Menschen also nie richtig in ihrem Wesen erfassen, weil wir sie immer nur durch uns selbst gespiegelt sehen?

Wir alle entstehen durch die Interaktion miteinander, insofern kann man das nicht trennen. Man sieht ja Menschen oft auch so, wie man sie sehen möchte. Man ist massgeblich beteiligt am Bild der anderen Person. Wir sind einfach alle nicht so festgeschrieben, wie wir das vielleicht manchmal glauben. Je nachdem mit wem man sich umgibt, ist man ja selbst auch ein bisschen anders. Jeder von uns hat ganz viele Facetten, die mal mehr, mal weniger erscheinen.

Ist Ihr Roman also im Kern nicht eigentlich vielmehr eine Geschichte über das Wesen von Erinnerungen und Erzählungen als über das Abschiednehmen?

Für mich hängt das zusammen: Je näher der Abschied kommt, desto notwendiger wird das Erzählen. Ich habe mir das so ausgemalt, dass das Erzählen gerade in dem Moment einen ganz anderen Stellenwert bekommt, wenn eine Person nicht mehr wirklich bewegungsfrei ist. Wie die Ali im Buch, die mit ihren 90 Jahren eben nicht mehr so mobil ist. Dann wird das Erzählen zur einzigen Möglichkeit, noch gemeinsam Sachen zu erleben. Wie nach dem Tod das Erinnern die einzige Möglichkeit ist Gemeinsames passieren zu lassen.

Ich mag den Roman auch, weil er Raum für Zwischentöne lässt und den Prozess des Erzählens und die Subjektivität von Erzählungen transparent macht. Warum war es Ihnen wichtig, diesen Spalt in ihre Schreibwerkstatt zu öffnen für die Leser:innen?

Das habe ich mir ehrlich gesagt noch gar nicht überlegt.

Also war es keine bewusste Entscheidung, dies so zu schreiben?

Doch schon. Aber in erster Linie, um die Ich-Erzählerin und auch mich als Schreibende davon zu entlasten, dass alles wahr sein muss, was ich schreibe. Für mich war das letztlich eine notwendige Rahmung der Erzählung und ein ständiger Verweis darauf, dass alles auch ganz anders sein könnte.

„Im Schreibstudium geht es um die eigene Auseinandersetzung mit dem Schreiben. Und darum, den eigenen Ton zu finden.“

Annina Haab über ihr Studium des literarischen Schreibens in Biel, Bern und Leipzig

Der Roman ist ihr literarisches Debüt. Wenn Sie jetzt zurückblicken: Von der ersten Idee bis zu den ersten Druckfahnen - wie viel Zeit und Arbeit steckt darin?

So richtig beziffern kann man das nicht. Bei mir was es extrem lange. Ich habe begonnen, mich damit auseinanderzusetzen vor etwa sieben Jahren. Fünf oder sechs Jahre habe ich immer wieder daran gearbeitet, aber auch immer mit Pausen dazwischen, weil ich gar nicht die ganze Zeit daran sitzen konnte. Als es mit dem Verlag klar war, haben wir über etwa ein halbes Jahr den Text zusammen bearbeitet. Ein sehr markanter Moment war für mich dann als ich die Druckfahnen erhalten habe, weil da klar war, dass ich eigentlich nichts mehr ändern kann. Obwohl ich noch ewig hätte weiterbasteln können.

Sie sind eine Perfektionistin?

Ja. Es ist jetzt noch so, dass wenn ich aus dem Buch vorlese, ich häufiger denke, dieses Wort müsste weg, ein anderes hin.

Da sind wir dann wieder bei dem Thema, wie schwer es sein kann Abschied zu nehmen, loszulassen.

Ja, total.

Haben Sie irgendwann während des Schreibens mal gedacht: „Nee, ich lass das jetzt, das führt doch zu nichts…“

Ich habe schon viel gezweifelt, ob das wirklich ein Roman werden würde oder ob es nicht einfach meine eigene Form der Auseinandersetzung mit dem Thema ist für mich ganz persönlich. Es gab dann aber diesen Moment, in dem die erste Person, die den Text gelesen hat, gesagt hat: Ah, das ist ein richtiger Roman. Da dachte ich, okay, dann muss ich mir die Frage nicht mehr stellen.

„Je näher der Abschied kommt, desto notwendiger wird das Erzählen.“

Annina Haab

Sie haben literarisches Schreiben studiert. Wie hilfreich war Ihnen Ihr Studium bei der Verfassung des Romans?

Naja. Die Schreibschulen ernten oft Kritik, die auf falschen Vorstellungen beruht. Man darf sich nicht so vorstellen, dass da ein Lehrer, eine Lehrerin vorne steht und einem erklärt, wie der perfekte Roman geschrieben wird. Wie auch in vielen anderen Kunststudiengängen, die sich übrigens viel weniger verteidigen müssen, geht es mehr um die eigene Auseinandersetzung mit dem Schreiben. Und darum, den eigenen Ton zu finden. Was einem in dem Studium wirklich etwas bringt ist, dass man viel Zeit hat, sich damit zu beschäftigen und sehr viele Rückmeldungen zu bekommen. So gesehen lernt man es nicht an der Uni, bekommt aber einen Raum, in dem man sich entwickeln kann.

Wenn man das nicht an der Uni lernt, wo dann?

Im Wesentlichen lernt man es im Machen.

Jetzt ist der Roman eine Weile publiziert, Sie haben vor Publikum daraus gelesen. Wie fühlt sich das an, wenn plötzlich die eigenen Gedanken so öffentlich werden?

Es hat schon etwas Befremdliches. Bei einer Lesung in Deutschland hat plötzlich jemand angefangen zu weinen. Das ist ja eigentlich eine total schöne Reaktion, aber ich wusste nicht so recht, wie damit umgehen. Aber ich erlebe eigentlich viele schöne Dinge. Ich bekomme zum Beispiel sehr viele Geschichten von Grosseltern erzählt. Das gefällt mir gut.

 

Der Roman, die Autorin und die Lesung

Der Roman: Annina Haab: „Bei den großen Vögeln“
Berlin Verlag, 2021
288 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-8270-1427-6

 

Die Autorin: Annina Haab wurde 1991 geboren und wuchs in Wädenswil im Kanton Zürich auf. Sie studierte Literarisches Schreiben in Biel, Bern und Leipzig und war Artist in Residence am Zentrum für nonkonformistische Kunst St. Petersburg sowie Stipendiatin der Autorenwerkstatt Prosa des Literarischen Colloquiums Berlin. Heute lebt Annina Haab in Basel; «Bei den großen Vögeln» ist ihr erster Roman.

 

Die Lesung: Am Donnerstag, 11. November, 19.30 Uhr, liest Annina Haab aus „Bei den großen Vögeln“ im Literaturhaus Thurgau. Moderation: Judith Zwick. Die Lesung findet statt im Rahmen der Debüt-Reihe. thurgaukultur.ch begleitet das Programm als Kooperationspartner.

 

Weitere Texte zum Thema:

 

Die Suche nach der Nadel im Heuhaufen: Jedes Jahr erscheinen zahlreiche Romandebüts. Aber wie findet man den Stoff, der für ein Erstlingswerk taugt? Über das mühsame Geschäft von Verlagen in Zeiten der Krise.

 

Aus dem Leben einer Türsteherin: Kaum eine andere Autor:in hat in den vergangenen Jahren so polarisiert wie Hengameh Yaghoobifarah. Jetzt stellt sie in einer digitalen Lesung ihren Debütroman vor.

 

Das erste Mal: Mit ihrem Debüt stellen sich Künstler:innen der Welt vor. Der Weg dahin ist lang und entbehrungsreich. Warum es sich trotzdem lohnt: Eine Geschichte über Leidenschaft, Hoffnung und Glück.

 

Mehr Beiträge zum Thema „Debüts“ im dazu gehörigen Themendossier.

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