von Hanspeter Schär, 16.05.2016
Weltklasse in Ittingen

Die Ittinger Pfingstkonzerte 2016 hatten das Motto „Farbe bekennen - Gone too far?“ und standen unter der künstlerischen Leitung des Pianisten Oliver Schnyder. Im folgenden die Besprechung von zwei der insgesamt acht Konzerte.
Hanspeter Schär
Die Ittinger Pfingstkonzerte zeichnen sich unter anderem dadurch aus, dass nach ausgewählten Darbietungen ein Gespräch mit den Künstlern angeboten wird. Wenn in den Nachgedanken zur unvergesslichen Original-Winterreise (Konzert 6 des diesjährigen Zyklus) der lyrische Tenor Christoph Prégardien erklärt, dass ihn dieses Werk auch nach über einhundert Einsätzen noch dermassen aufrühre, dass er jeweils einige Zeit brauche, um wieder zum normalen Tagesgeschäft zurück zu finden, dann muss diesem Werk etwas ganz Besonderes innewohnen. Es fällt denn tatsächlich auch schwer, Worte zu finden, um den Eindruck zu schildern, den dieses an Emotionen kaum zu überbietende Meisterwerk auszulösen vermochte. Für diesen Eindruck sorgte Prégardien mit seiner absolut überlegenen Interpretation. Er ist vielfach preisgekrönt und gilt als einer der bedeutendsten Liedersänger deutscher Zunge unsrer Zeit.
Über Schubert ein Hauch von Mysterium
Franz Schubert, der geniale Schöpfer dieses 1827 entstandenen romantischen Liederzyklus, habe beim Komponieren jeweils wie entrückt, ja gar einer andern Wirklichkeit angehörend gewirkt. Den ausübenden Künstlern, Christoph Prégadien und seinem kongenial mitgestaltenden Partner (nicht Begleiter!) am Klavier, Ulrich Koella, ist es vom ersten Ton an gelungen, die erwartungsfrohen Konzertbesucher auf das Äusserste zu fesseln und zu entrücken. Lag es an der makellos geführten, an differenzierten Klangfarben und dynamischen Möglichkeiten reichen Stimme Prégaderns, an seiner eigenen Ergriffenheit, die an Mimik und Gestik lebhaft nachvollziehbar war, lag es am idealen Miteinander der beiden begnadeten Musiker, war es die besondere Wirkung, die sich aus der Verbindung von Musik und Sprache im Zusammenhang mit menschlichen Gefühlen im Idealfall ergeben darf? Sei’s drum! Über der Darbietung wehte ein Hauch von Mysterium, das sich jeder Rezension glücklicherweise entzieht.
Nun ist die Winterreise ja bekanntlich keine leicht verdauliche Kost. Die von Wilhelm Müller geschriebenen Gedichte durchwühlen in ihrem konsequenten Gang des Wanderers bis zum dürren Ende im Leiermann viele belastende, auch existentielle Gemütszustände. Zwar flackern immer mal wieder hoffnungsvolle Zwischentöne auf, aber der Gang bleibt unerbittlich. Das zahlreiche Auditorium dankte mit ergriffenem Schweigen, bevor der verdiente Künstlerlohn in Form von lange anhaltendem Applaus losbrach. Auch in uns Besuchern wird der verklanglichte Blick in die Tiefen menschlicher Natur noch lange nachwirken.
Schwere durch Telemann modern entschärft
Eine weitere Spezialität der diesjährigen Ittinger Pfingstkonzerte, die unter der künstlerischen Leitung von Oliver Schnyder standen, ist die eher unübliche Programmzusammenstellung. Da stellt uns der fantastische Flötist Philipp Jundt zwei der insgesamt zwölf Solofantasien von Georg Phliipp Telemann vor die Winterreise, die durch den jungen Schweizer Komponisten David Philip Hefti je noch mit einer zeitgemässen Weiterführung versehen waren. Die an Bachsche Solosuiten erinnernden Kostbarkeiten barocker Musik hätten in ihrem tänzerisch leichten, fast improvisiert wirkenden Gestus zur nachfolgenden Winterreise keinen grösseren Kontrast bilden können. Im Nachhinein vermochten diese reizenden, mit modernen Spieltechniken raffiniert ergänzten Stücke die Schwere der Schubertschen Aussagen etwas zu entschärfen.
Darf man das?
Die Frage, ob man die Schubertsche „Winterreise“ in jazzigem Gewand anlässlich der Pfingstkonzerte in der Kartause Ittingen aufführen dürfe und ob sie sich auch für Frauenstimme eignen würde, können sich nur jene Musikliebhaber noch stellen, die das Konzert Nr. 7 des diesjährigen Konzertzyklus verpasst haben. Die gut zwei Hundertschaften, die am Pfingstsonntag um 20.30 Uhr den Weg in die Remise der Kartause Ittingen gefunden hatten (die angedachte Openairidee im grossen Kreuzgarten musste des kühlen Wetters wegen leider fallen gelassen werden), hatten Ihr Kommen nun wahrlich nicht zu bereuen.
Der aus der Schweiz stammende Wahlösterreicher Mathias Rüegg, ein in der Jazzszene Europas wohlbekannter und sehr geschätzter Musiker, ehemals Leiter des legendären Vienna Art Orchestras, hat sich neben Werken von Rossini, Mahler, Johann Strauss und anderen nun auch der Winterreise angenommen, indem er sie in sein Genre übertragen und neu arrangiert hat. Was dabei herausgekommen ist, macht auch für den jazzigen Laien absolut Lust auf mehr. Allerdings bedarf diese Musik in jedem Fall einer leidenschaftlichen, hoch professionellen Jazzcombo, wie sie mit der animierenden Gruppe um Rüegg am Piano in schönster Art gegeben war.
Defekte Klappenfeder und pfingstlicher Geist
Da ist zuallererst die zierliche oberösterreichische Leadfrau Lia Pale zu nennen, die in unglaublich präsenter und authentischer Manier, dabei ganz unprätentiös, durch das Werk geführt hat. Ihre liebliche, bisweilen fast kindliche, dann aber wieder zu dynamischen Exzessen bereite Vocalkunst verriet eine Musikerin, die ein unwahrscheinliches musikalisches Potenzial aufweist, denn sie spielte auch (zumindest solange die Klappenfeder einer unteren Taste auf ihrer Querflöte noch funktionierte) in exquisiter und künstlerisch hochstehender Art auch dieses Instrument. Rührend, wenn auch nicht absolut selbstverständlich, holte ihr der Flötist des vorangehenden Konzertes seine Ersatzflöte und reparierte anschliessend die defekte Klappe. Dies nur als Beispiel für die spür- und auch hörbare Verbundenheit unter den Musikern. Viele in Ittingen praktizierende MusikerInnen hören sich die Darbietungen ihrer KollegInnen an, was leider unter Musikern nicht unbedingt üblich ist! Der klösterliche Geist (oder war es an diesem Pfingssonntag Tag der Pfingstgeist?) scheint an dieser Stätte weiterhin wohltuend zu wirken.
Selten schöne Einheit
Dann wäre der unglaublich virtuose Saxophonist Fabian Rucker, die wunderschön, präzise und weit übers Rhythmische Musik machende Schlagzeugerin Ingrid Oberkanins und der absolut zuverlässige und in seinen Solis ebenfalls brilliante Hans Strasser am Kontrabass zu nennen, die zusammen mit dem Spiritus Rector Mathias Rüegg eine selten schöne Einheit bideten.
Chapeau vor dieser eindrücklichen Gesamtleistung, in der Mathias Rüegg in stoischer Überlegenheit und Ruhe sein grossartiges Oeuvre vom Klavier aus managte und trotzdem den Lead ganz der Sängerin überliess. Dass auch in dieser Form die tiefen Schubertschen und Müllerschen Inhalte in neuer, zwar ungewohnter, aber deshalb nicht minder eindrücklichen Art zum Ausdruck gekommen sind, wurde vom sichtlich bewegten Auditorium dankbar aufgenommen. Für Kenner des Originals war es übrigens wie ein klangliches Vexierbild, in dem man immer wieder, das eine Mal mehr, das andere Mal weniger, bekannter Schubertscher Melodik gewahr wurde.
Wir als mit weiteren unaussprechlichen Erfahrungen bereicherten und dankbaren Konzertbesucher verliessen die Kartause einmal mehr mit der festen Gewissheit, dass die Kombination von gleichermassen genialen MusikerInnen und Kompositionen, die in einem lustvollen Ambiente gemeinsam ihrer Bestimmung nachleben dürfen, immer zu eindrücklichen, unvergesslichen Ereignissen führen. In diesem Sinne: Ja, man darf und soll das!
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Die künstlerische Leitung der Ittinger Pfingstkonzerte 2017 übernimmt die Geigerin Isabelle Faust, die unter anderem letzten Sommer „artiste étoile“ des Lucerne Festivals war. (red)
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Gespräch zu den Pfingstkonzerten 2016 mit Oliver Schnyder und Alain Claude Sulzer
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- Kritik
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