von Bettina Schnerr, 26.02.2019
Wenn Literatur Grenzen verschiebt
Mit ihrem zweiten Buch „Nachtleuchten“ gelang Maria Cecilia Barbetta im letzten Jahr der Sprung auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises. Am Montagabend stellte sie ihr Werk in einer gut besuchten Lesung in der Kantonsbibliothek in Frauenfeld vor. Erstmals gastierte damit das Literaturhaus Thurgau mit seinem Programm ausserhalb des Bodmanhauses.
An der katholischen Privatschule Instituto Santa Ana in Ballester herrscht Aufbruchsstimmung. Beeindruckt vom damals sehr modernen Zweiten Vatikanischen Konzil, ihrem liebsten Unterrichtsthema, plant die junge Teresa eine eigene religiöse Initiative. Mit Hilfe einer kleinen Plastikmadonna, die nachts grünlich schimmert, möchte sie die Leute im Viertel ansprechen. Mit kindlicher Chuzpe verleiht sie die Madonna zuerst an die Familie ihrer wohlhabendsten Klassenkameradin, um deren Villa endlich von innen sehen zu können.
So kess und humorvoll beginnt Maria Cecilia Barbettas Roman „Nachtleuchten“ nicht ohne Hintergedanken. Barbetta kehrt zurück in das Argentinien der Jahre 1974/75. Noch so kurz vor Beginn der Militärdiktatur hatte das Land grosse Pläne. Der frühere Präsident Peron ist nach 18 Jahren im Exil zurück an der Regierung, zusammen mit seiner dritten Frau. Die Menschen träumen von einer grossen Zukunft, angelehnt an die verklärten Jahre von Perons erster Präsidentschaft und untrennbar verbunden mit seiner kultisch verehrten, früheren Frau Evita.
„Literatur ist Konzeptkunst“
Um dem alltäglichen Leben vor dem grossen Umbruch näher zu kommen, plante Barbetta ihr Buch möglichst genau. „Ich brauche Struktur beim Schreiben,“ sagt sie und zeigt dem Publikum das Inhaltsverzeichnis: „Beim Auflisten der Kapitel entstehen lauter Quadrate.“ Diese bewussten Einteilungen versteht sie wie ein Spielfeld für sich und den Leser, der mit den Figuren leben und sie interpretieren kann.
Jedes Quadrat umfasst einen Buchteil mit genau 33 Kapiteln. Bei drei Teilen macht das 99, sodass ein finales Kapitel die Zahl 100 auffüllt. Damit spielt Barbetta auf ein weiteres Kernthema im Roman an, den Okkultismus. Im damaligen Argentinien spielte er eine so grosse Rolle, dass selbst die Politik davor nicht Halt machte. „Das ging so weit, dass ein führender Politiker versucht hatte, den 1974 verstorbenen Peron wieder zum Leben zu erwecken,“ erinnert sich Barbetta.
Videoporträt anlässlich des Deutschen Buchpreises 2018
Literarische Vorboten des Putsches
Unterschwellig zeigt Barbettas Text immer deutlicher, was sich politisch anbahnt. Da sind zum Beispiel zwei Polizisten, dumm und dreist, die in jedem Buchteil ihre Rolle neu erfüllen, und dabei zunehmend dreister werden. Als ein gehörnter Ehemann einem Nebenbuhler offen droht, lässt dessen Wortwahl eine Vorahnung der kommenden Drangsalierungen zu. Das Lokalblatt zeigt ein letztes Aufbäumen gegen die Verschiebungen: „Und sollte einer kommen und fragen wollen, würde er vermelden, dass der ballester lokalanzeiger bewusst auf Grossbuchstaben verzichte, um zu veranschaulichen, dass sich keiner über den anderen erhebe."
Moderatorin Marianne Sax, auch Mitglied der letztjährigen Buchpreis-Jury, geht auf die Sprachwahl Barbettas ein. Denn die gebürtige Argentinierin wählte von Beginn an Deutsch für ihre Texte. „Das Tor für die deutsche Sprache öffnete sich für mich im Kindergarten,“ erinnert sich Barbetta. „Ich ging im Einwandererviertel Barbetta auf eine deutsche Schule und mochte die Sprache sehr früh.“ Die Liebe zur Sprache hielt sich, Jahre später liess sie sich zur Lehrerin für Deutsch als Fremdsprache ausbilden.
Die Sprache als Ventil
Obwohl ihre Geschichten in Argentinien spielen, könnte Barbetta nicht auf Spanisch schreiben. „Wenn ich schreibe, suche ich Orte für starke Gefühle und das sind oft widersprüchliche Gefühle,“ erzählt sie. Auf ihre Kinderjahre im Argentinien der Militärdiktatur greift sie lieber auf Deutsch zurück: „Kunst und Gefühle hängen zusammen und man kann Gefühle nicht loswerden.“ In gewisser Weise schütze sie die Sprache beim Schreiben und sie wird zu einem Werkzeug, Ängste dieser Zeit zu verarbeiten. „Mein Argentinien in der Literatur ist ein anderes, wenn ich auf Deutsch schreiben kann.“
„Vieles, was ich entdecke, stammt von anderen Orten, doch ich transportiere es im Buch dorthin. Literatur macht das möglich, ich kann damit Grenzen verschieben,“ sagt sie. Sprachlich schränkt sich Barbetta ebenso wenig ein, denn sie nimmt Deutsch auch optisch wahr. Auch etwas, was sie auf Spanisch nicht könne, meint sie. Ihr Roman ist gespickt mit kleinen Spielereien. Hat jemand Zahnpastaflecken im Gesicht, hat auch der Text welche. Die Rasanz einer Fahrstunde voller Ablenkungen spiegelt sich in einem durcheinander geratenen Druckbild wieder.
Nichts ist abgeschlossen
Wer sich auf Barbettas Opus einlässt, findet ein eng gewobenes Netz aus Personen, denen man im Roman immer wieder begegnet. „Dieses Ballester war ein kleines Kaff,“ erinnert sich Barbetta. Man kannte sich und das spiegle dieser Roman wieder. Dieser Kniff, viele Personen im Spiel zu halten, knüpft den Roman wie ein Netz zusammen.
Was fehlt, ist ein klassischer roter Faden, ein Abschluss, merkt Marianne Sax an. „Ein Leser schliesst mit dem Zuklappen des Buchs doch gerne etwas ab, oder?“ Barbetta widerspricht lebhaft. „Nein, nichts ist abgeschlossen, alles geht immer weiter.“ Deshalb fehlt „Nachtleuchten“ ein konkretes Ende: „Eine Literatur, die öffnet, wo wir versuchen, alles in Schubladen zu packen,“ beschreibt sie ihr Ziel beim Schreiben.
Die Schönheit des Fehlers
Zum Ende hin kommt die magische Zahl 33 noch einmal ins Spiel, zufällig das Alter, in dem Barbetta mit dem Schreiben anfing. Die Inspiration kam durch die Werbung vor einer Änderungsschneiderei in Berlin. Die Eigner boten in der ersten Zeile „Änderung von Damen“ an. Ein vergessener Bindestrich sorgte dafür, dass die Zeile mit dem Rest des Schildes nichts mehr zu tun hatte. Bei Maria Cecilia Barbetta löste die Zeile die Idee für ihren ersten Roman „Änderungsschneiderei Los Milagros“ aus und sie sagt heute: „Die Schönheit des Fehlers hat ermöglicht, dass ich schreiben kann.“
Bisher übrigens kennt in Argentinien niemand Maria Cecilia Barbetta, wie sie lachend anmerkt. Das könnte sich nun ändern. Die Rechte wurden kürzlich an einen argentinischen Verlag verkauft. Zwei Jahre wird es wohl dauern, bis ihr Roman in jener Sprache erscheint, in der sie den Stoff nicht erfassen konnte und wollte. Dem Übersetzer steht die Arbeit mit einem überbordenden Panoptikum bevor, mit einem üppigen und bunten Erzählstil und einem Manuskript, das Barbettas Lust an der Sprache und zahlreichen Sprachspielen verrät. Sie will sich überraschen lassen, wie das auf Spanisch klingen wird.
Reinhören: Die passende Musik zum Buch (zusammengestellt von Maria Cecilia Barbetta) gibt es hier.
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