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von Inka Grabowsky, 22.12.2022

Zeitreise im Wiesental

Zeitreise im Wiesental
Die mechanische Werkstätte im Wiesental versetzt 100 Jahre zurück. Adolf Müller und Jürg Stänz kümmern sich mit ihren Vereinskollegen um sie. | © Inka Grabowsky

In der mechanischen Werkstätte Wiesental in Eschlikon können Besuchergruppen sich erklären lassen, wie vor hundert Jahren Maschinen mit Wasserkraft angetrieben wurden. Möglich macht das ein Verein, der die vergessene Werkstatt eines Thurgauer Erfinders wieder zum Leben erweckte. (Lesedauer: ca. 2 Minuten)

Die Werkstatt von Ulrich Leutenegger liegt idyllisch ausserhalb Eschlikons, wenn man es positiv formuliert. Sie ist abgelegen, könnte man auch sagen. Kein Wunder: Bevor der Mechaniker sie umbaute, also von 1868 bis 1875, war das Gebäude eine Gerberei. Den Geruch wollte man nicht im Dorf haben.

Der Parkplatz oberhalb des Weihers ist meistens leer. Spontan kommt kaum ein Besucher vorbei. Die Familie, die vor 14 Jahren die Anlage gekauft hat, wird meist in Ruhe gelassen. Nur einmal im Jahr beim Mühlentag wimmelt es hier von Leuten.

Und wenn eine Schulklasse, eine Familie oder eine Pensioniertengruppe eine Führung bucht, kommt auch Leben ins Wiesental. Die Besucher wollen einen Zeitsprung 100 Jahre zurück machen.

70 Jahre Dornröschenschlaf

1932 starb hier mit 80 Jahren der Schlosser und Erfinder Ulrich Leutenegger, und trotz seines Alters muss er plötzlich aus seinem Leben gerissen worden sein. Seine Brille, seine Pfeifen, seine Zirkel liegen auf der Werkbank, als wäre er nur kurz aus dem Haus gegangen.

«Sein letztes Patent für eine Förderpumpe hatte er mit 79 beantragt und bekommen», erklärt Adolf Müller, einer der ehrenamtlichen Führer, die den Besuchern die Werkstatt erklären. Fast 70 Jahre war sie in Vergessenheit geraten. Einer der vier Söhne des Mechanikers wurde Landwirt in Wiesental. Er nutzte die Werkstatt als Abstellraum.

 

«2003 beim Ortsplanungsprozess haben wir die Werkstatt unter Schutz gestellt.»

Jürg Stänz, engagiert sich seit Jahren für die Werkstatt

Erst nach dessen Tod 2002 entdeckte man, welche industriehistorischen Schätze hier im Originalzustand erhalten waren. «2003 beim Ortsplanungsprozess haben wir die Werkstatt unter Schutz gestellt», sagt Jürg Stänz, der damals im Gemeinderat sass.

«Und dann haben wir zunächst den historischen Zirkel gegründet. Eine seiner ersten Aufgaben war es, gemeinsam mit den Erben aufzuräumen.» Heute ist der Zirkel zum historischen Verein geworden, der im Auftrag der eigens errichteten Stiftung die Werkstatt unterhält.

Mechanische Manufaktur

«Werkstätte» klingt viel zu einfach für die Einrichtung im Wiesental. Hier stehen eben nicht nur Werkbänke, sondern viele Maschinen, die Ulrich Leutenegger zum Teil selbst gebaut oder wenigstens modifiziert hat.

Es gibt eine Esse, in der Schmiedearbeiten ausgeführt wurden. Der Mechaniker hat hier neue Geräte erfunden und sie auch von seinen Angestellten für seine Kunden bauen lassen.

Bekannt – und durchaus erfolgreich – wurde er zum Beispiel durch einen neuartigen «Widder», mit dem man Wasser ohne zusätzliche Energie aus 70 Metern Tiefe an die Oberfläche pumpen kann, indem man die Fliessgeschwindigkeit nutzt.

 

Die ledernen Treibriemen mussten nach 70 Jahren Dornröschenschlaf erneuert werden. Jürg Stänz (rechts) und Adolf Müller sind stolz auf die Restaurierung. Bild: Inka Grabowsky

Geld ist kein Problem

Finanziell steht die mechanische Werkstatt Wiesental auf stabilem Fundament. Ihr Schutz ist im Grundbuch eingetragen. Die Besitzerfamilie darf also nichts verändern. Der Inhalt der Werkstatt gehört der Stiftung. Sie hat Sponsoren und bekommt auch Unterstützung von der Gemeinde Eschlikon.

Jede der zehn oder zwölf Führungen im Jahr spült hundert Franken in die Kasse. Das muss reichen, denn viel mehr Aufwand könne die Ehrenämtler kaum leisten. Spezielle Werbung machen sie deshalb nicht. Die Mund-zu-Mund-Propaganda bringt ihnen Besucher.

Aufpoliert und in Stand gesetzt

Nach und nach haben die Vereinsmitglieder die Werkstatt wieder zu dem Schmuckstück gemacht, das sie heute ist.

Erst wurde der Elektromotor aus dem Jahr 1915 in Stand gesetzt. 2016 schafften es die einheimischen Handwerker Günther Nischelwitzer und Max Rutishauser nach monatelanger Arbeit auch die Pelton-Turbine von 1880 wieder in Gang zu bringen, die Wasserkraft in kinetische Energie umsetzt. Dass es im gleichen Jahr den Thurgauischen Heimatschutzpreis gab, erscheint logisch.

Jetzt rauscht das Wasser, drehen sich die metallenen Wellen unter der Decke und übertragen neue lederne Transmissionsriemen die Kraft auf verschiedene Maschinen in der Werkstatt. Sie sind frisch gewartet: Es riecht nach Öl. An der Metall-Hobelmaschine fliegen die Späne.

 

Romantik und Mechanik in der mechanischen Werkstätte - nicht nur für Maschienenbauer faszinierend. Bild: Inka Grabowsky

Nachwuchs gesucht

Während der Aufbauphase erfuhr das Team um Jürg Stänz und Adolf Müller viel Unterstützung. Rund vierzig Menschen sind im Verein. «Jetzt wird es schwieriger, engagierte Mitglieder zu finden», so Stänz. «Die jungen Leute leben eben anders.»

Die Werkstattbetreuer seien alle in höherem Alter. «Die Jüngeren wissen weniger, wie die Maschinen funktionieren. Man muss schon Freude an der Mechanik haben, Interesse an der Geschichte, und dann noch Wissen darüber ansammeln.»

 

Das Wasser im Kanal treibt die Turbine an. Bild: Inka Grabowsky

 

Die Mechanische Werkstätte

Mechanische Werkstätte Wiesental
Farbstrasse 6
8360 Eschlikon

 

Führungen auf Anfrage. Einzelbesuche sind nicht möglich.

 

+41 71 971 24 26
info@historik-eschlikon.ch 
www.historik-eschlikon.ch

 

Die Serie «Industriekultur»

In einer Serie beleuchten wir einige Orte der Industriekultur im Thurgau.

 

In den nächsten Wochen werden wir weitere Thurgauer Industriedenkmäler gesondert vorstellen.

 

Das Telephonica im Greuterhof Islikon

Die Mechanische Werkstätte Wiesental in Eschlikon

Die «Alte Säge» in Tägerwilen

 

Alle Beiträge bündeln wir im Themendossier «Industriekultur».

 

 

 

 

 

 

 

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