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von Brigitta Hochuli, 23.10.2013

Aussetzer mit offenem Ende

Aussetzer mit offenem Ende
Der Schüler Chris (Gabor Nemeth) schlägt seine Lehrerin (Anja Tobler) zu Boden. | © Brigitta Hochuli

Am 30. Oktober zeigt das Theater Bilitz in Weinfelden seine Jubiläumspremiere „Aussetzer“. Anja Tobler und Gabor Nemeth agieren als verständnisvolle Lehrerin und renitenter Schüler. Im Interview sagt die Thurgauer Schauspielerin, was sie beim Thema Gewalt bewegt und was es für sie bedeutet, in einem Jugendstück zu spielen.

Brigitta Hochuli

Das ist spannend. Der Jugendliche Chris erklärt, dass ihn Kickboxen und sein sehr geiles Bike mehr interessieren als Fräulein Störs Unterricht. Er bringt auch den schlagenden, drohenden und erpresserischen Vater ins Rollenspiel. Die Stör reflektiert im Selbstgespräch die Schwierigkeiten, Jugendliche fürs Lernen zu motivieren, die kurz vor dem Schulabschluss stehen. Schon in der ersten durchgängigen Probe im Theater Thurgau in Weinfelden ermöglicht das packende Spiel von Anja Tobler und Gabor Nemeth der (erwachsenen) Zuschauerin einen fast voyeuristischen Blick in die Welt des Systems Schule.

„Als Lehrer hast du die Arschkarte“, sagt Fräulein Stör. Und trotzdem beschönigt sie, dass sie von Chris arztreif geschlagen worden ist. „Es ist nichts Schlimmes, nur blaue Flecken und eine geschwollene Nase. Ich zahle die Rechnung so oder so.“ Für den Täter war der Schlag ein AUSSETZER, ein ungeplanter Reflex, für den er sich eindringlich entschuldigt. Denn er braucht eine Vier in Mathe, sonst ist die Lehrstelle weg. Die Lehrerin hat Verständnis und gibt ihm Nachhilfeunterricht. Für beide ist das ein „scheiss Risiko“. Das Ende und viele Fragen bleiben offen - für Zuschauer, Lehrer und Schüler wie Eltern.

Das Jugendstück unter Regie von Agnes Caduff hat der deutsche Autor Lutz Hübner verfasst, die eindringliche Rapmusik Daniel R. Schneider komponiert. Illustration und Animation verantwortet Jonathan Nemeth.

*

Frau Tobler, Sie sind privat eine junge Mutter, wie reagieren Sie persönlich auf die Gewaltproblematik des Stücks?

Anja Tobler: Ich erlebe an meinem zweijährigen Sohn, dass physische Gewalt gegenüber Dingen und Lebewesen eine der ersten Strategien ist, die der Mensch anwendet, wenn er etwas erreichen will. Das scheint ein sehr urtümliches Verhalten zu sein, und es ist eine Herausforderung, einem kleinen Kind beizubringen, dass andere Lösungen gefunden werden müssen, damit nichts kaputt geht und niemandem weh getan wird.

Haben Sie eine Erziehungs-Strategie?

Anja Tobler: Ich versuche, meinem Sohn immer und immer wieder zu erklären, dass er gewisse Dinge nicht darf. Und manchmal nehme ich ihn auch kurz zur Seite und entferne ihn von den anderen Kindern. Wichtig scheint mir aber, dass bei so kleinen Kindern nicht überreagiert wird. Auch wenn ein Streit mal handgreiflich wird, sollten die Erwachsenen nicht vergessen, dass die Kinder auch lernen müssen, sich zur Wehr zu setzen und dass ein Kind nicht gestört ist, wenn es andere mal haut oder schubst.

Haben Sie Angst?

Anja Tobler: Essenziell ist bei der Erziehung sicher, dass man das vorlebt, was man vom Kind erwartet. Da sehe ich auch die grössten Probleme für die Gesellschaft. Wenn ein Kind aus einem gewalttätigen Elternhaus kommt, wird es Gewalt ebenfalls als probates Mittel zur Lösung von Problemen betrachten. Angst habe ich keine, weder dass mein Sohn später gewalttätig wird, noch davor, dass ihm Gewalt angetan wird. Ich bin optimistisch veranlagt und sehe keinen Sinn darin, mir darüber Gedanken zu machen, was irgendwann mal sein könnte. Da gäbe es so vieles...

Das Stück „Aussetzer“ will Jugendliche ab 13 Jahren ansprechen. Spielen Schauspieler vor einem erwachsenen Publikum eigentlich anders als zum Beispiel in diesem Fall? Welche Erfahrungen haben Sie mit Jugendtheater schon gemacht?

Anja Tobler: Ich spiele nicht anders für Kinder und Jugendliche als für Erwachsene. Manchmal überlegt man sich bei der Inszenierung natürlich, ob das Zielpublikum gewisse Anspielungen oder Ausdrücke versteht. Aber generell finde ich, dass man Kindern und Jugendlichen einiges zutrauen kann. Und ich finde, sie haben das gleiche Recht auf Kunst und Kultur wie Erwachsene. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Jugendliche es schätzen, wenn sie ernst genommen werden. Sie wollen nicht, dass man sich bei ihnen anbiedert. Das versuchen wir auch bei "Aussetzer" zu vermeiden.

Welches Publikum ist Ihnen das liebste?

Anja Tobler: Ich habe kein "liebstes" Publikum. Ich mag es, wenn ich nach einer Aufführung das Gefühl habe, wir SchauspielerInnen hätten das Stück mit dem Publikum zusammen gespielt. Theater muss ein Wechselspiel zwischen Sender und Empfänger sein, dann hat es funktioniert.

"Aussetzer" entlässt die Zuschauer mit einem offenen Ende. Würden Sie ihnen nicht lieber einen guten Rat mit auf den Weg geben?

Anja Tobler: Ich mag offene Enden gerne. Ich glaube nicht, dass die Leute ins Theater gehen, um beraten zu werden, dafür kaufen sie sich einen Ratgeber.

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Anja Tobler

Geboren 1979, lebt in Basel. Aufgewachsen in Frauenfeld. Nach der Matura Besuch der Hochschule Musik und Theater Zürich, Abteilung Schauspiel. Während der Schauspielschule Engagements am Schauspielhaus Zürich, am Theater an der Sihl und am Theater Winkelwiese. Diplom 2005, seitdem Engagements unter anderem am Theater Basel, Luzerner Theater, Stadttheater Bern, Theater Chur, Rote Fabrik, Theater Winkelwiese. Gastspiele am Théatre Vidy Lausanne, am HAU Berlin, an den Sophiensaelen Berlin, am Thalia Theater in Hamburg und an zahlreichen Festivals im In- und Ausland. Arbeiten mit Stephan Müller, David Bösch, Thomas Schweigen, Christiane Pohle, Christina Rast, Gian Manuel Rau, Jean Grädel, Jonas Knecht. Anja Tobler bekam 2009 einen Kulturförderbeitrag des Kantons Thurgau.

Gabor Nemeth

Als "Romulus" in der gleichnamigen Komödie von Friedrich Dürrenmatt erkannte Gabor Nemeth bereits als Jugendlicher, dass die Bühne das Grosse in seinem Leben wird. Nach dem Studium an der Artistenschule in Budapest liess er sich noch zum Schauspieler ausbilden. Es folgten mehrere Boulevardstücke am Bernhardtheater und am Theater am Hechtplatz u.a. mit Erich Vock und Walter Andreas Müller. Die kabarettistischen Stücke "Amor, Venus & Koller", "Monopoly" und "Genmobbing" schrieb und produzierte er zusammen mit Rhaban Straumann. Gabor Nemeth ist seit 2008 Ensemblemitglied beim Theater Bilitz. Am TV brachte er mit versteckter Kamera als Lockvogel und Co-Autor von "Rätpäck" das Fernsehpublikum zum Lachen und agiert regelmässig bei Giacobbo/Müller und im Kassensturz. Des weitern gestaltet und baut er Bühnenbilder und Spezialrequisiten für Theater und Fernsehen. Unter requisit.ch sind einige Arbeiten ausgestellt.

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