von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 03.07.2019
Heimatsuche unterm Zirkuszelt

In einem riesigen Zirkuszelt bastelt die Südwestdeutsche Philharmonie mit vielen Partnern gerade an einem irrwitzigen Projekt: Mehr als 600 Mitwirkende bringen an zwei Abenden ein Stück über Heimat auf die Bühne. Ein Probenbesuch.
Heimat, was soll das sein? Der Ort, an dem man lebt? Die Stadt, in der man aufgewachsen ist? Oder hat es am Ende gar nichts mit Geografie zu tun? Sondern vielmehr mit einem emotionalen Wohlfühlort? Viele kluge Leute haben sich schon mit diesen Fragen befasst, klare Antworten sind bisher trotzdem Mangelware. Vielleicht auch deshalb hat sich die Südwestdeutsche Philharmonie in Konstanz auf ein grosses Abenteuer rund um das Thema „Heimat“ eingelassen: „Daheim - eine Odyssee“ heisst das Mammutprojekt, das am 4. und 5. Juli in einem riesigen roten Zirkuszelt am Ufer des Seerheins aufgeführt wird.
Das Projekt ist in vielerlei Hinsicht grenzsprengend: Mehr als 600 Leute wirken mit. Die Altersspanne liegt zwischen 8 und Ende 70. Profis und Laien spielen zusammen. Schüler und Senioren. Orchester und Schule kooperieren. Seit mehr als einem Jahr laufen die Vorbereitungen für das explizit als Partizipationsprojekt angelegte „Daheim“, es gab etliche Workshops, Proben und Gespräche in den vergangenen Monaten und nach all der Zeit jetzt wird es jetzt endlich ernst.

Schwüle Luft und ganz viel aufgeregte Euphorie
Ein Dienstag im Juli in Konstanz. Zum ersten Mal kommen alle Beteiligten des Projektes zur ersten Probe eines Gesamtdurchlaufs zusammen. Grosses Gewusel, Geplapper, Geraune herrscht unter dem 28 Meter hohen Zirkuszelt. Zwei Tage vor der Premiere liegt konzentriert-euphorische Stimmung in der schwülen Luft. Der Sommer der letzten Tage hat ordentlich eingeheizt. Das Zelt hat zwar eine Klimaanlage, sie ist nur noch nicht richtig eingestellt. Bis zur Premiere soll das aber klappen, versichert die Projektleiterin Corinna Bruggaier.
Die Regisseurin Silke Schumacher-Lange, gelbes Kleid, barfuss, steht am Rand und versucht, den Überblick zu behalten. Keine ganz leichte Aufgabe angesichts der Vielzahl an Beteiligten. Zeit für ein Interview hat sie an diesem wichtigen Probentag nicht, ihre Gedanken zum von ihr verfassten Stück hat sie aber im Programmheft erläutert: „Was am Ende ‚Daheim‘ für uns bedeutet, wissen wir nicht. Wir lassen uns davon inspirieren, was jeder Einzelne an Fragen und Ideen mitbringt, lassen uns irritieren, denn der Weg nach Daheim geht über Umwege - wir behaupten, es sei eine Odyssee“, beschreibt sie die monatelange Vorarbeit. Daheim ist für sie kein Ort und keine Festlegung, „bestenfalls ein Weg, eine Annäherung“, so Schumacher-Lange.
„Wir wollen dem Besucher etwas zumuten.“
Silke Schumacher-Lange, Regisseurin (Bild: Ilja Mess; Szene von den Proben)
Ihre Wünsche für die Aufführungen? „Das einzige Ziel, das wir haben, ist, den Ort, an dem wir spielen wollen, an zwei Abenden mit Leben füllen und ein Publikum daran teilhaben lassen, was wir auf unserer monatelangen Reise erlebt haben. Mit allen Sinnen soll es erfahrbar sein, für grosse und kleine Menschen, für Konstanzer und Zugereiste. Die Irrfahrt geht durch Höhen und Tiefen. Wir wollen dem Besucher etwas zumuten.“ Neben der theatralen Handlung soll auch viel Platz bleiben für das Orchester und die Musik. Gespielt werden unter anderem Stücke von Bach, Beethoven, Mahler und Grieg.
Der Aufwand für das Projekt ist immens. Ob sich das lohnt für zwei Aufführungen? «Auf jeden Fall», sagt Projektleiterin Corinna Bruggaier. Denn es gehe ja nicht nur um die Aufführungen, sondern um den gesamten Prozess: «Da ist ein grosses Netzwerk von Menschen entstanden, die sonst vermutlich nie etwas miteinander zu tun gehabt hätten. Diese Verbindungen zwischen den Menschen und das Gefühl, dass alle Beteiligten für die Arbeit eines Orchesters bekommen, das ist der wahre und nachhaltige Schatz von 'Daheim'», sagt Bruggaier.
Bilderstrecke: Einblicke in die Inszenierung (Szenen von der Probe am 2. Juli; alle Fotos: Ilja Mess)
Dass so etwas in der Grösse überhaupt möglich ist in Konstanz, liegt auch daran, dass die Südwestdeutsche Philharmonie im Rahmen der so genannten Exzellenzförderung des Bundes drei Jahre lang jeweils 450.000 Euro für verschiedene nachhaltige Projekt erhält. Die Inszenierung „Daheim“ ist eines von verschiedenen Vorhaben, das aus diesen Mitteln bestritten wird.
Die Idee dazu hatte der frühere Intendant Beat Fehlmann. Konkreter Anlass dafür war auch die Heimatlosigkeit des Orchesters. Seit Jahrzehnten fehlt es an an einem angemessenen Konzerthaus für den Klangkörper in der grössten Stadt am Bodensee. Letztlich ist das Projekt also auch ein PR-Instrument, um der Stadtgesellschaft zu zeigen, was möglich wäre, wenn es ein echtes Konzerthaus in der Stadt gäbe.
„Heimat muss man auch aushalten können.“
Oliver Wnuk, Schauspieler (Bild: Ilja Mess)
Derlei profane Gedanken waren es nicht, die den aus Konstanz stammenden Schauspieler Oliver Wnuk dazu inspirierten, sich an dem Projekt zu beteiligen: „Alles, was ich von ‚Daheim‘ gehört hatte, fand ich beeindruckend, das Projekt klang fantastisch. Mich hat es auch gereizt, mich in meiner Heimatstadt mit dem Thema Heimat zu beschäftigen. Ausserdem hat mich der Schulleiter meiner früheren Schule gefragt, ob ich mitmachen möchte. Da habe ich mich geehrt gefühlt“, sagt er im Gespräch mit thurgaukultur.ch. In dunkelgrünem Sakko, bordeauxrotfarbenem T-Shirt und dazu passenden Schuhen steht der aus vielen TV-Serien bekannte Schauspieler neben dem Zirkuszelt und beantwortet den anwesenden Journalistinnen und Journalisten ein paar Fragen.
Seine Monologe im Stück habe er selbst geschrieben, sagt Wnuk. Sie zeigten, dass er ein zwiespältiges Verhältnis zu dem Begriff habe: „Heimat muss man auch aushalten können. Wenn ich hier aus meiner Ferienwohnung auf den Bodensee schaue, dann ist das ja beinahe grausig schön“, sagt der Schauspieler, der am Theater Konstanz einst seine Karriere begann. Einerseits. Andererseits warnt er aber davor Heimat automatisch mit Harmonie gleichzusetzen: „Wenn das so wäre, gäbe es weltweit nicht so viele Flüchtlinge, die ihre Heimat wegen Krieg, Terror und Bedrohungen verlassen müssen“, so Wnuk. Aber gerade diese Vielschichtigkeit des Begriffes habe ihn letztlich auch gereizt mitzumachen bei „Daheim“: „Hätte ich das Thema in zwei Sätzen formulieren können, hätte ich nicht mitgemacht, weil es mich gelangweilt hätte“, so Wnuk.

Ein Ziel: Durchlüften unter der Käseglocke
Jetzt, zwei Tage vor der Premiere, sei er schon ziemlich aufgeregt, „wie immer vor Premieren“, sagt Wnuk. Und dieses Mal vielleicht noch ein bisschen mehr: „Ich erzähle da vor mehr 1000 Zuschauern, Freunde, Verwandte, Bekannte, was ich über ihre Heimat denke. Das hat schon etwas sehr Intimes. Es wird da auch den einen oder anderen geben, der mit meinen Ansichten nicht einverstanden ist“, vermutet der Schauspieler. Um dann noch anzufügen: „Mal ehrlich, wir leben hier schon unter einer heimeligen Käseglocke hier, oder?.“ Diese mal etwas anzuheben und frische Luft und Gedanken herein zu lassen, sehe er durchaus als seine Aufgabe auf der Odyssee nach diesem sagenumwobenen Ort namens Daheim.


Termine und weitere Aufführungen
4. & 5. Juli, 19 Uhr: Daheim - eine Odyssee
7. Juli, ganztags, ab 11.15 Uhr: Classical Slam: Musiker der Philharmonie stellen sich vor
11. Juli, 19.30 Uhr: Unlimited Spezial: Glamrock in concert: Queen. Die Südwestdeutsche Philharmonie spielt Songs der legendären Rockband
14. Juli, 11 Uhr: Klassik am See mit Auszügen aus der Oper „Carmen“
14. Juli, 18 Uhr: SeppDeppSeptett: Acht Blechbläser mit unterhaltsamen Programm
19. Juli, 21 Uhr: Northern Lite (Elektro, Synthie, Clubsounds)
Tickets und weitere Info für alle Veranstaltungen:
www.lustschloss-am-seerhein.de
Telefon: +49 7531 900 150

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