von Maria Schorpp, 08.11.2021
Die lauernde Lust am Schrecken

In der Frauenfelder Theaterwerkstatt Gleis 5 geht es zu wie bei Hempels unterm Sofa: Leopold Hubers Inszenierung von Yasmina Rezas Erfolgsstücks „Der Gott des Gemetzels“ führt mit hinterlistigem Sinn für Komik vor, was passiert, wenn der Schleier der Zivilisation in Fetzen fliegt. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
Vielleicht hatte Yasmina Reza den vielzitierten Ausspruch ihres Landsmanns Blaise Pascal im Hinterkopf, als sie ihr Stück „Gott des Gemetzels“ schrieb. Das ganze Unglück der Menschen rühre daher, schreibt der Gelehrte, dass diese nicht einfach in ihren Zimmern bleiben können.
Tatsächlich wäre es nicht so weit gekommen, wenn Annette und Alain gleich nach dem, wenn auch halbherzigen Eingeständnis, dass ihr Sohn Ferdinand Mist gebaut hat, wieder nach Hause gegangen wären. Stattdessen gehorchen ihre Gastgeber Véronique und Michel dem Gebot der Höflichkeit, laden die beiden zum Kaffee ein und fordern damit das Schicksal heraus.
Die Lust, die anderen zu ärgern
Der elfjährige Ferdinand hat also Bruno, dem ebenfalls elfjährigen Sohn der Véronique und Michel, zwei Zähne ausgeschlagen. Im Zeitalter der Helikopter-Eltern ein schwerwiegendes Delikt. Dennoch: Es gab, im Nachhinein gesehen, immer wieder kleine Zeitfenster, in denen die Chance bestand, den Ernstfall zu verhindern, indem Annette und Alain eben einfach gegangen wären.
Aber ist da nicht schon sehr früh eine fatale Anziehungskraft, eine geheime, fast archaische Lust zu spüren am sich gegenseitig Aufschaukeln, am sich gegenseitig zuerst ein bisschen, dann ein bisschen mehr ärgern, bis man sich die anderen zurechtgelegt hat?
Das Stück entwickelt einen enormen Sog
In der Inszenierung des Erfolgsstücks in der Theaterwerkstatt Gleis 5 in Frauenfeld liegt dieser Verdacht nahe, was auch den enormen Sog erklären könnte, den die vier Schauspielenden auf der Bühne erzeugen. Nicole Steiner und Giuseppe Spina als Täter-Eltern Annette und Alain sowie Wanda Wylowa und Noce Noseda als Opfer-Eltern Véronique und Michel setzen diesem klarsichtigen Selbstläufer von Yasmina Reza noch einen drauf, indem sie ihren Figuren etwas Lauerndes beimischen, das nichts Gutes verheisst.
Ein an der Komödie gereifter Schrecken
Dass Anspruch und Wirklichkeit im modernen, westlich zivilisierten und moralisch gewappneten Menschen auseinanderklaffen, dürfte mittlerweile bekannt sein, ist aber doch immer wieder schrecklich zu beobachten.
In der Inszenierung von Leopold Huber ist das ein an der Komödie gereifter Schrecken. Nichts wird ausgelassen, was das Weltbild dieser vier als frommen Wunsch von Menschen entlarvt, die in naiver Selbsterhöhung den Zugang zu ihrer dunklen Seite verloren haben. Dabei sind es oft Kleinigkeiten, mit denen die Inszenierung die Richtung weist – eine Spezialität des Regisseurs und Co-Leiters des Seeburgtheaters, der sich auf den hinterlistigen Spass versteht.
Spannend, wie die Frontverläufe wechseln
Da ist Véronique, die Buchautorin mit viel emanzipatorischem und kulturellem Ehrgeiz, die sich von ihrem Mann Michel in die Hausfrauenrolle drängen lässt. Sehr genau beobachtet ist die Szene, wie sich Michel einmal, quasi als Ersatzhandlung, hinter seine Zeitung flüchtet, obwohl er vom Emotionspotenzial her einen Mord begehen könnte.
Konflikte gibt es zuhauf. Zunächst verläuft die Front zwischen den beiden Paaren, weil im Sprössling das eigene Fleisch und Blut dann doch die zivilisatorischen Übereinkünfte mehr als aufwiegt. Mit rasantem Tempo – und dem Genuss eines edlen Rum – ändern sich jedoch die Frontverläufe, temporäre Koalitionen entstehen kreuz und quer, eine Kampforgie mit wechselnder Paarung sozusagen.
Wie Magengeschwüre entstehen
Unmittelbare Wiedererkennung ist genauso garantiert wie das verzweifelte Lachen des sich selbst erkennenden Mitglieds der zu einiger Bildung gekommener Mittelschicht. Die Handy-Fixierung von Rechtsanwalt Alain ist inzwischen theaterlegendär, die hysterischen Schreianfälle von Ehefrau Annette ein schauriges Spiegelbild einschlägiger Ehefrustrationen.
Nicole Steiner und Giuseppe Spina führen diese alltäglichen Gemeinheiten mit Verve vor. Übrigens können auch Anrufe über das Festnetz den Menschen in die Knie zwingen, wie Michel demonstriert, der wiederholt von seiner Mama angerufen wird. Noce Noseda geht jedes Mal fast zu Boden, derart muss er sich im Gespräch mit ihr zusammenreissen. So entstehen Magengeschwüre.
Man ahnt, was die Figuren zusammenhält
Einschlägig auch die Szene, in der Annette über die sorgsam inszenierten Kunstbände von Véronique reihert und diese mit dem Fön versucht, den Schaden zu begrenzen. Wanda Wylowa und Noce Noseda sprühen vor spiessigem Esprit, wenn sie Seite für Seite auf das feinfühligste zu retten versuchen, während ihnen ansonsten kein psychologisches Schlagwerkszeug zu grob ist, um die jeweils anderen da zu treffen, wo es am meisten wehtut. Immerhin versteht man in dieser Szene, was sie zusammenhält.
Gut vorstellbar, dass sich die beiden Elfjährigen längst wieder vertragen, während sich die Alten mehr angetan haben, als sich Zähne auszuschlagen. Im Gleis 5 ist zu sehen, wie dünn unser Schleier der Zivilisation ist, wenn er aber in Fetzen hängt, kehrt das Chaos zurück. Ein schauriges Vergnügen mit vier mitreissenden Schauspielenden.
Weitere Aufführungen: 12./13./14. November 2021. Alle Tickets gibt es über die Website der Theaterwerkstatt.

Von Maria Schorpp
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