von Brigitta Hochuli, 14.06.2011
„Gerettet - zerbrochen“

Gregor Spuhler legt sein Buch über den jüdischen Flüchtling Rolf Merzbacher vor. Es ist auch ein Buch zur Psychiatrie im Thurgau während des Kriegs und zur Wiedergutmachung.
Brigitta Hochuli
Rolf Merzbacher, hoch intelligenter Sohn eines jüdischen Arztes im Württembergischen Öhringen, kam 1937 als 13-jähriger Primarschüler nach Kreuzlingen, erlebte als Jugendlicher acht Ortswechsel in Landwirtschaftsbetrieben der Region Kreuzlingen und Arbeitslagern im Tessin und begab sich 1942 wegen Konzentrationsstörungen freiwillig in psychiatrische Behandlung in Münsterlingen. „Ob er ohne nationalsozialistische Verfolgung gesund geblieben wäre, ob er sich in einer Berufslehre als Laborant oder in einer Schule als Gymnasiast zurechtgefunden hätte, ob es ihm besser ergangen wäre, wenn er nicht in die psyhchiatrische Klinik eingetreten wäre - wir wissen es nicht“, schreibt Gregor Spuhler.
Einzelfall im historischen Zusammenhang
Spuhler, Autor einer Geschichte über Frauenfeld, Mitglied der Bergier-Kommission und seit 2007 Leiter des Archivs für Zeitgeschichte an der ETH Zürich, wertet nicht. Die Krankengeschichte des Rolf Merzbacher - grösstenteils bereits publiziert und hier besprochen - ist im nun vorliegenden Band „Gerettet - zerborchen“ ergänzt durch ausführliche Kapitel über die Schweizerischen Lager im Krieg, die Thurgauer Vertreibungspolitik und die „Logiken der Wiedergutmachung“ in den Jahren 1948 bis 1973. Gregor Spuhlers Buch ist ein Stück Thurgauer Geschichte, die Untersuchung eines Einzelfalls in seinem historischen Zusammenhang, verlässlich recherchiert, gut geschrieben und spannend zu lesen.
Verdrängungsleistung der Psychiater
Während der psychiatrischen Behandlung wurde Rolf Merzbacher vom „rätselhaften Fall“ zum unheilbaren und erblich belasteten Schizophrenen, der 1983 in der Klinik Waldhaus in Chur an Krebs verstarb. Die Ärzte im Münsterlingen klammerten die Belastung des jungen Patienten durch die Trennung von den Eltern aus, die nach Konstanz geflüchtet waren und 1942 von dort nach Gurs in Südfrankreich deportiert und vermutlich 1944 im Konzentrationslager Lublin-Majdanek ermordet wurden. Über deren Schicksal war der Sohn im Ungewissen, und er hatte Schuldgefühle, die in der heutigen Psychiatrie mit der traumatisierenden Situation eines Emigranten erklärt würden. Behandelt wurden seine Symptome unter anderem mit insgesamt 61 Elektroschocks, die aber keine Besserung brachten, sondern schlimme körperliche Folgen hatten. „Dass die ärztliche Behandlung den zeitgenössischen Kontext vollkommen ausblendete, muss aus heutiger Sicht als Verdrängungsleistung der Schweizer Psychiater erscheinen“, schreibt Spuhler. „Das war jene Zeit, als man einfach nichts anderes tun konnte“, sagte Professor Roland Kuhn in einem Gespräch mit Spuhler im Jahr 2003. Kuhn hatte Rolf Merzbacher behandelt und war ab 1939 stellvertretender Direktor der Klinik.
Vom klaren Fall zur offenen Lebensgeschichte
Robert Wieler, der Präsident der Israelitischen Gemeinde Kreuzlingen, bemühte sich um Rolf Merzbacher, war 30 Jahre lang sein Vormund, finanzierte die Klinikaufenthalte mit, sorgte dafür, dass der Patient 1951 nicht nach Deutschland verlegt wurde und kümmerte sich später um Gelder aus der deutschen Wiedergutmachung. Nicht weniger als sieben Verfahren waren dazu nötig. Die letzte Entschädigung wurde 1974 bezahlt.
Während dieser Verfahren seien die primär finanziellen Fragen etwa zur Rückerstattung von Vermögenswerten oder zur Waisenrente durch die Auseinandersetzung um die Deutung der Vergangenheit ergänzt worden, berichtet Gregor Spuhler. „Was um 1960 aus medizinischer und juristischer Sicht ein klarer Fall von erblich bedingter Schizophrenie gewesen war, wurde damit wieder zu einer Lebensgeschichte, die prinzipiell offen war und ohne nationalsozialistische Verfolgung - vielleicht, vermutlich - ganz anders verlaufen wäre.“
Vernissage
Der jüngere Bruder von Rolf Merzbacher, Werner Merzbacher, konnte in Zürich aufwachsen, eine Handelsschule absolvieren und später in den USA erfolgreicher Kaufmann und Kunstsammler werden. Er ist an der Vernissage des Buches heute Mittwoch, 15. Juni, 18.15 Uhr, im Archiv für Zeigeschichte der ETH-Zürich anwesend.
*****
Gregor Spuhler, „Gerettet - zerbrochen. Das Leben des jüdischen Flüchtlings Rolf Merzbacher zwischen Verfolgung, Psychiatrie und Wiedergutmachung“, Veröffentlichungen des Archivs für Zeitgeschichte ETH Zürich Band 7, Chronos Verlag Zürich, 2011, 229 S., 34 Franken

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