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Übergabe ohne Abgangsentschädigung - mit einem Gedicht!

Übergabe ohne Abgangsentschädigung - mit einem Gedicht!
„Wenn du willst, kannst du alles umräumen“, sagt Thomas Holenstein (li) zu seinem Nachfolger im Bürgerarchiv, Franz Isenring (re). | © Kathrin Zellweger

Sie sind im doppelten Wortsinn Amateure: Hingebungsvoller könnten Thomas Holenstein und Franz Isenring ihre Arbeit im Weinfelder Bürgerarchiv gar nicht ausüben, auch wenn sie keine Ausbildung als Archivare haben.

Kathrin Zellweger

„Wenn du willst, kannst du alles umräumen“, sagt der Ältere zum Jüngeren, fügt dann aber sofort an, dass dieses Urkundenverzeichnis oder jenes Nachschlagewerk „unbedingt in Griffnähe bleiben sollte“. Nach 25 Jahren übergibt Thomas Holenstein die Aufgabe des Archivars der Bürgergemeinde Weinfelden an Franz Isenring. Wie es bei einem Ehrenamt üblich ist: ohne Aufhebens und ohne Abgangsentschädigung.

Zur zweiten Stube geworden

Das Bürgerarchiv ist über die Jahre zu Thomas Holensteins zweiter Stube geworden. Wer hier vorbeischaute, hatte nie den Eindruck, ihn zu stören. Im Gegenteil: Es war, als ob er einen Gast – keinen Kunden! – empfinge, dem er liebend gern von der Fülle und der Vielfalt der aufbewahrten Akten erzählte. Jetzt aber, mit 83, hat er doch den Eindruck, dass er diese Aufgabe, die ihm stets mehr Leidenschaft als Arbeit war, einem Jüngeren übergeben sollte, „bevor der Arzt es mir befiehlt“.

Als Thomas Holenstein 1989 von seinem Vorgänger in dieses Archiv eingeführt wurde, entsprach es genau dem Klischee, das man von seinem solchen Ort hatte: ein stickiger Raum im Kellergeschoss, wo es nach altem Papier und Staub riecht, wo schlecht leserliche Aufklebezettel sich von übervollen Schachteln lösen, daneben Beigen von Broschüren und Mappen mit Fotografien. Was nach Durcheinander aussah, hatte dennoch seine Ordnung – doch bloss im Kopf des damaligen Archivars. Es war dann Holensteins Aufgabe, Bücher, Akten, Dokumente im wahrsten Sinn des Wortes auf die Reihe zu bringen.

Noch viel zu tun

Unter ganz anderen Vorzeichen hat Franz Isenring seine Arbeit Anfang Jahr antreten können: Zuoberst im Gemeindehaus ist ein luftig-heller Raum, ein Teppich am Boden, gerahmte Bilder an der Wand, angeschriebene Regale. Alles hat seine Ordnung, „auch wenn noch viel zu tun bleibt“, wie Holenstein sofort festhält, um ja nicht den Eindruck zu erwecken, dass in einem Archiv je alles erledigt sein könnte. Nur etwas fristet ein Schattendasein: Der Arbeitsplatz mit dem Computer. Das wird sich unter dem neuen Archivar ändern.

Franz Isenring, Schulinspektor des Kantons Thurgau, gesteht: „Ein bisschen ein Pensionierten-Hobby ist diese neue Aufgabe schon.“ Aber ein vergangenheitsvernarrter Mensch, der sich für Stunden nur noch über kaum entzifferbare Dokumente beugen wird, wird er nicht sein. Seine Leidenschaft sind die alten Häuser Weinfeldens, die bei seinen Dorfführungen eine ebenso wichtige Rolle spielen wie die Leute, die darin gewohnt haben. „Wenn ich einer Bauherrschaft helfen kann, damit sie vor der Renovation über den ursprünglichen Zustand eines Gebäudes Bescheid weiss, dann freut mich das“, sagt der 60-Jährige.

Vom Bischof bis zum General

Ein Stichwort genügt und schon verschwindet Holenstein hinter den Regalen und kommt mit dem Gästebuch des abgerissenen Hotels Krone, dem ersten Haus am Platz, zurück. So zurückhaltend der ehemalige Sekundarlehrer sonst ist, jetzt gerät er ins Schwärmen: „Es ist unglaublich, wer da alles ein und aus gegangen ist: Bischof Franziskus von Streng, General Henri Guisan …“ Man fragt sich, ob er dieses Reich, das er zu seinem Reich gemacht hat, überhaupt verlassen kann.

Das Suchen in einem Archiv beginnt oft mit einer Vermutung. Anhand einer ganzen Reihe von Findmitteln, Büchern und Konkordanztabellen begibt sich der Archivar auf Spurensuche. „Es ist immer eine grosse Genugtuung, wenn man merkt, dass man sich nicht getäuscht hat.“ Oft haben solche Suchen einen Nebeneffekt: Man stösst auf etwas, das man hier nie vermutet hätte oder gar nicht wusste, dass es so was gibt. Isenring nimmt den Faden auf: „Dann ist es wie beim Surfen im Internet – und die Zeit verrinnt einem zwischen den Fingern.“

Seine Zufallsfunde notierte sich Holenstein mit kurzer Inhaltsangabe auf einem Zettel, damit er diese Trouvaille später wieder findet. Nein, einen Zettelkasten wird Isenring nicht führen, sondern stattdessen den Computer gebrauchen. „Aber mit dieser Neuerung hat es sich auch schon. Alles andere mache ich wie mein Vorgänger, von dem ich viel lernen kann.“ Holenstein hört’s gern und sagt dann schmunzelnd: „Unter Berufsarchivaren heisst es: Der beste Archivträger ist immer noch das Papier. Wer weiss schon, wie lange man die elektronischen Datenträger lesen kann und wie verlässlich die Elektronik überhaupt ist.“

Offen für alle

Obwohl es der Name suggeriert, stehen im Bürgerarchiv nicht nur Dokumente und Akten von Weinfelder Bürgerinnen und Bürgern, sondern auch von den übrigen Einwohnern - „ausser die Akten der politischen Gemeinde“. Hinz und Kunz dürfen kommen und sich nach der Familiengeschichte, einer Liegenschaft, einem Katasterplan oder einem Flurnamen erkundigen. Auf eben diesen Kontakt freut sich Franz Isenring ganz besonders, so wie eben dieser Kontakt Thomas Holenstein am meisten fehlen wird.

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