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von Tabea Steiner, 19.10.2023

«Auch die Fantasie ist autobiographisch!»

«Auch die Fantasie ist autobiographisch!»
Literatur entsteht manchmal auch aus Träumen. Eine der Lehren, die die Schriftstellerin Tabea Steiner gezogen hat. | © Canva

Mein Leben als Künstler:in (19): Die Autorin Tabea Steiner über die meist gestellte Frage an Schriftsteller:innen: Wie viel von dem Text stammt eigentlich aus Ihrem Leben? (Lesedauer: ca. 3 Minuten)

Als Schriftstellerin wird man zuweilen gefragt, woher die Ideen kommen, ob ein Text autobiographisch sei, oder ob man sich alles selber ausgedacht habe. 

Meine Texte sind oft autobiographisch gefärbt, aber sie erzählen selten das, was wirklich passiert ist, weil ich mich entweder falsch erinnere, oder weil ich, was viel häufiger vorkommt, das Geschehene als Material ansehe und es dann in einem Text dort einsetze, wo und wie es mir gerade passt

Ich glaube, ich könnte bei jedem Text an jeder Stelle sagen, woher die Idee kommt. 

Manches kommt aus dem eigenen Leben, vieles aber auch aus der eigenen Lektüre, der Recherche, dem, was einem andere Menschen erzählen, was man im Alltag beobachtet, worüber man nachdenkt. 

Material aus den Träumen

Und dann gibt es noch jene anderen Ebenen. Material, das sich selber so verformt, wie es ihm gerade passt. Träume. Oder unterbewusste Realitätsebenen, von denen man zuweilen erst später, viel später, versteht, woher sie kommen. Und die sich plötzlich, wie von allein (das möchte man zuweilen gern glauben) geschmeidig in einen Text einfügen. 

So habe ich beispielsweise lange an einem Text über Singerien herumgepröbelt, sehr viel recherchiert (zu Glasaugen, zu Noam Chomskys Universalgrammatik und zum Teddybärenfestival im Berner Oberland), aber habe, einmal mehr, den Zugang zum Text nicht gefunden. Es war mir völlig unklar, wie ich das alles zusammenbringen sollte. 

Einmal war ich schon nach dem Mittag so müde, dass ich mich kurz hinlegte und sofort einschlief. Als ich aufwachte, war die Idee für den Text da, und ich musste sie nur noch aufschreiben. Mir war so etwas zuvor noch nie passiert. 

 

Ta-da! Aufgewacht und schon ist der Text im Kopf. Manchmal hat man als Autor:in auch Glück. Bild: Canva

Wenn sich das echte und das fiktive Leben im Kopf der Autorin treffen

Oder dieser andere, sehr seltsame Traum, den ich vor ein paar Wochen hatte: Eine Bekannte, die ich aus dem Wachzustand kaum kenne, hatte mich angerufen und um Rat gebeten. Es ging um eine Liebesangelegenheit, sie hatte sich auf eine komplizierte Beziehung mit einer meiner Romanfiguren eingelassen. 

Ich versuchte, so gut ich konnte, zu vermitteln. Das gelang bei der Bekannten viel besser, die Romanfigur gab sich stur und war zu überhaupt nichts zu bewegen. Das wiederum brachte die Bekannte zur Weissglut, und sie fand, ich solle das Buch eben umschreiben. 

Romanfiguren werden zeitweise zu Freund:innen

Und bei beiden meiner bisherigen Romane hatte ich jeweils eine Phase, in der die Figuren so real waren, dass es mir am Abend vorkam, als wäre ich tagsüber mit ihnen verabredet gewesen, als hätte ich wirklich an ihrem Leben teilgenommen. 

Oft habe ich beim Abendessen von ihnen erzählt, als wären sie meine Arbeitskollegen, und einmal habe ich mich über sie geärgert, bevor ich merkte, dass es um meine eigenen Figuren ging. Zum Glück kannte mein Gegenüber die Romanfiguren bereits und wusste damit umzugehen. 

Auch das gibt’s: Trennungsschmerz von fiktiven Charakteren

Vor Kurzem schrieb mit eine – reale – Freundin, dass sie fast ein wenig Abschiedsschmerz habe von den Figuren ihres derzeit entstehenden Romanes, weil sie die aktuelle Fassung ins Lektorat geben musste und die Figuren sie für eine Weile nicht brauchten, sozusagen selbständig geworden waren. 

Dabei habe sie manchmal selbst lachen müssen, darüber, dass sie sich Sorgen machte um Leute, die es nicht gibt, oder nur in Dateien, auf Zetteln und in der Fantasie. Aber es gibt sie eben schon. Und in manchen Momenten sind sie genauso real wie die Freundin, mit der ich per Handy kommuniziere. 

 

Im Traum entstehen Handlungsräume. In der Literatur auch. Bild: Canva

Was der Schreibstil über die Autorin verraten

Wenn es um die Frage geht, woher Ideen kommen, und ob sie etwas aus dem eigenen Leben enthalten, kommt mir oft der schöne Satz von Aglaja Veteranyi in den Sinn: Auch die Fantasie ist autobiographisch. 

Und ich würde hinzufügen, dass über die Art und Weise, wie jemand schreibt, viel mehr über die Schriftstellerin zu erfahren ist als über den Inhalt der Texte. Es ist viel persönlicher, den eigenen Blick auf die Welt zu offenbaren, als biographische Geschehnisse in Texte einfliessen zu lassen. 

Aber auch hier: Wie sich die Ideen zu einem Text zusammentun, wie sie sich in Sprache manifestieren, lässt sich nicht bis ins Letzte beeinflussen. Manches liegt ausserhalb der eigenen Kontrolle, und Ideen lassen sich nicht erzwingen. Träume schon gar nicht. 

Texte finden Wege in unser Bewusstsein

Es ist aber nicht nur so, dass das, was mir in meinem Leben begegnet, möglicherweise in irgend einer Form in einem meiner Texte wieder auftaucht. Sondern manchmal taucht auch das, was in meinen Texten passiert, in meinem Leben wieder auf. Oder in einem meiner Träume. 

Man mag es für wenig realistisch halten, aber die Idee zu diesem Text hatte ich im Halbschlaf. Ich habe mich kurz vor dem Wegdämmern noch einmal aufgerafft und sie festgehalten. Mir war so etwas zuvor erst einmal passiert. 

 

Die Serie «Mein Leben als Künstler:in»

Im Juni 2023 lancieren wir die neue Kolumnenserie «Mein Leben als Künstler:in». Darin schreiben die vier Künstler:innen Ute Klein, Fabian Ziegler, Thi My Lien Nguyen über ihren Alltag und ihre Arbeit. Diese vier Künstlerinnen und Künstler schreiben bis Ende Oktober 2023 regelmässig und abwechselnd ihre Kolumnen für die neue Serie. Sie erscheint ab dem 15. Juni immer donnerstags. Die Vorgaben, die wir aus der Redaktion gemacht haben, waren minimal. In Thema, Stil, Darstellungsform, Tonalität und Medialität sind alle Autor:innen frei. Die Autor:innen können sich aufeinander beziehen, müssen es aber nicht.

 

Eine kritische Auseinandersetzung mit Dingen, die die Künstler:innen beschäftigen, wie den Bedingungen des Kulturbetriebs oder auch mit dem Kulturleben im Thurgau oder was auch immer, ist genauso möglich wie eine Schilderung des Alltags. Ziel der Serie ist es, ein möglichst realistisches Bild der verschiedenen Künstler:innen-Leben zu bekommen.

 

Idealerweise entsteht so ein Netz aus Bezügen - interdisziplinär und umspannend. Mit der Serie „Mein Leben als Künstler:in“ wollen wir den vielen Klischees, die es über Künstler:innen-Leben gibt, ein realistisches Bild entgegensetzen. Das soll unseren Leser:innen Einblicke geben in den Alltag der Kulturschaffenden und gleichzeitig Verständnis dafür schaffen, wie viel Arbeit in einem künstlerischen Prozess steckt.

 

Denn nur wer weiss, wie viel Mühe, Handwerk und Liebe in Kunstwerken steckt, kann die Arbeit von Künstler:innen wirklich wertschätzen. So wollen wir auch den Wert künstlerischer Arbeit für die Gesellschaft transparenter machen. Neben diesem aufklärerischen Ansatz ist die Serie aber auch ein Kulturvermittlungs-Projekt, weil sie beispielhaft zeigt, unter welchen Bedingungen Kunst und Kultur heute entstehen.

 

Was wir uns als thurgaukultur.ch auch erhoffen mit der Serie ist, dass ein neuer Dialog der Kulturschaffenden untereinander entsteht, aber nicht nur. Es soll auch ein Austausch mit dem Publikum, also unseren Leser:innen stattfinden. Das geht über unsere Social-Media-Kanäle, in denen wir direkt miteinander diskutieren können oder in der Kommentarspalte zu den einzelnen Beiträgen auf unserer Website. Wenn du konkrete Fragen an die teilnehmenden Künstler:innen hast, wenn dich ein Themenfeld besonders interessiert, dann kannst du mir auch direkt schreiben, ich leite dein Anliegen dann gerne weiter: michael.luenstroth@thurgaukultur.ch 

 

Alle erschienenen Beiträge der Serie bündeln wir im zugehörigen Themendossier.

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