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von Tabea Steiner, 21.09.2023

„Diese Welt geht uns immer was an“

„Diese Welt geht uns immer was an“
Zu schön, um von dieser Welt zu sein? Der Blumengarten und das Café im Kingdom of Torgu. | © Tabea Steiner

Mein Leben als Künstler:in (15): Die Schriftstellerin Tabea Steiner über unerwartete Begegnungen und die Frage, wie man Zusammenhänge in Sprache fassen kann. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)

In diesem Sommer habe ich das erste Mal das Baltikum bereist. Wir sind über eine riesige Sanddüne – die kurische Nehrung – gewandert, haben dort zwei Elche gesehen und das Sommerhaus von Thomas Mann besucht, das ganz in der Nähe der russischen Grenze steht. 

Wir sind durch schier endlose Wälder gefahren und an einem Schiffsgrab aus der Wikingerzeit vorbeigekommen. Und wir haben Denkmäler aus der Sowjetzeit und Gedenkstätten für den Holocaust besucht. 

Ein paar Tage haben wir auf der Insel Saaremaa verbracht, wo vor ungefähr 4000 Jahren ein Meteorit eingeschlagen hat, der Krater ist immens. Wir sind rundherum spaziert und haben uns überlegt, wo sich wohl all die Materie, die vom Himmel gefallen ist, befindet, ob sie am Grund des Kratersees liegt. 

Eine Pfeilspitze aus dem All

Am selben Abend habe ich einen Bericht über eine uralte Pfeilspitze, die im 19. Jahrhundert im Bielersee gefunden worden ist, gelesen. Die Pfeilspitze stammt aus der Bronzezeit, als Eisen erst in Südeuropa bekannt war – und sie stammt von genau diesem Meteorit, dessen Einschlagstelle wir an diesem Tag besucht hatten. Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass die Pfeilspitze also aus ausserirdischem Material gefertigt worden war. 

Am nächsten Tag fuhren wir auf eine Landzunge hinaus, um dem Strand entlang zu wandern. Es regnete in Strömen, und wir fanden Unterschlupf in einem kleinen Café, das neben einer Windmühle mitten in einem Blumenfeld stand. 

In der Vitrine lagen hausgebackene Torten aus, die Gardinen waren von Hand gehäkelt, alles war liebevoll selbstgemacht. Nur die Flagge, die wehte, irritierte uns, weil wir sie nicht kannten. 

Zu Gast in einem unbekannten Königreich

Das ist die Flagge des Kingdom of Torgu, erzählte uns die Besitzerin des Cafés.

Nachdem die Sowjetunion zusammengebrochen war, setzte Estland seine neue Verfassung auf, die am 29. Juni 1992 in Kraft trat. Darin waren alle Bezirke aufgelistet, alle, ausser der kleinen Landzunge, auf der wir uns gerade befanden. 

Nach einer kurzen Empörung beschloss die Bevölkerung, die Sache selbst in die Hand zu nehmen und gründete ein eigenes Königreich. Zum König wurde Kirill Teiter ernannt, Politiker und Humorist. Das Königreich verfügt nebst einer eigenen Flagge über eigene Embleme, eigene Briefmarken und sogar eine eigene Währung, den Torgu Taaler. Ein Torgu Taaler entspricht einem halben Liter estnischen Vodkas.

Ein demokratisch gewählter König

Die Frau im Café lachte bis hinter die Ohren, als sie uns die neuen Münzen zeigte, die just vor einem Tag geliefert worden waren. Darauf war etwa ein Leuchtturm zu sehen oder die Umrisse des Königreichs, aber auch das Konterfei des neuen Königs, Kristian Teiter. Dieser war nach dem Tod seines Vaters aus neun Kandidaten demokratisch gewählt worden und am 26. August 2023 zum neuen König gekrönt. 

Als der Regen nachgelassen hatte, bezahlten wir unsere Torten in Euro und machten uns auf den Weg. Es war ein sonderbares Gefühl, beim Verlassen dieses kleinen Cafés ein anderes Land zu betreten als jenes, aus dem wir gekommen waren, ein Land, von dem wir bis vor Kurzem noch nicht einmal gewusst hatten.  

Auf der Rämistrasse in Riga

Auf der Weiterreise hielten wir uns ein paar Tage in Riga auf und besuchten das Museum des Rigaer Ghetto. 

Im einen Raum waren Menschen portraitiert, von denen Dokumente, Fotos oder Briefe erhalten geblieben sind.  

Ein Bild traf mich mitten ins Herz: Walter Serner steht auf der Zürcher Rämistrasse. 

Walter Serner gehörte zu den Zürcher Dadaisten. Während meiner Studienzeit habe ich eine Arbeit über ihn geschrieben, sein Buch «Letzte Lockerung. Ein Handbrevier für Hochstapler und solche, die es werden wollen» habe ich vielfach verschenkt, ausschliesslich an männliche Freunde. Und sein Roman «Die Tigerin. Eine absonderliche Liebesgeschichte» hat seine besondere Bewandtnis mit meiner eigenen Liebesgeschichte. 

Aber dass Walter Serner nach Riga deportiert und dort ermordet worden war, hatte ich nicht mehr gewusst. 

Das grosse Glück, wenn sich der Blick dreht

So unterschiedlich diese Stationen waren, so verschieden die Begebenheiten: Sie haben ein klein wenig an meinem Blick gedreht. Sie haben mich einmal mehr daran erinnert, dass die politischen, geographischen, historischen Zusammenhänge unsere Lebenswelt ausmachen, auch dann, wenn man nichts davon weiss, sie vergessen hat, oder gerade im Urlaub ist. 

Sie haben mich daran erinnert, dass diese Welt uns immer etwas angeht. Dafür muss man keine Schriftstellerin sein.

Als Schriftstellerin kann man jedoch versuchen, die Zusammenhänge in Sprache zu fassen. Und manchem kommt man mit Humor bei, wie dies die Bewohner des Kingdom of Torgu bewiesen haben. 

Aber anderem nicht. 

Die Serie «Mein Leben als Künstler:in»

Im Juni 2023 lancieren wir die neue Kolumnenserie «Mein Leben als Künstler:in». Darin schreiben die vier Künstler:innen Ute Klein, Fabian Ziegler, Thi My Lien Nguyen über ihren Alltag und ihre Arbeit. Diese vier Künstlerinnen und Künstler schreiben bis Ende Oktober 2023 regelmässig und abwechselnd ihre Kolumnen für die neue Serie. Sie erscheint ab dem 15. Juni immer donnerstags. Die Vorgaben, die wir aus der Redaktion gemacht haben, waren minimal. In Thema, Stil, Darstellungsform, Tonalität und Medialität sind alle Autor:innen frei. Die Autor:innen können sich aufeinander beziehen, müssen es aber nicht.

 

Eine kritische Auseinandersetzung mit Dingen, die die Künstler:innen beschäftigen, wie den Bedingungen des Kulturbetriebs oder auch mit dem Kulturleben im Thurgau oder was auch immer, ist genauso möglich wie eine Schilderung des Alltags. Ziel der Serie ist es, ein möglichst realistisches Bild der verschiedenen Künstler:innen-Leben zu bekommen.

 

Idealerweise entsteht so ein Netz aus Bezügen - interdisziplinär und umspannend. Mit der Serie „Mein Leben als Künstler:in“ wollen wir den vielen Klischees, die es über Künstler:innen-Leben gibt, ein realistisches Bild entgegensetzen. Das soll unseren Leser:innen Einblicke geben in den Alltag der Kulturschaffenden und gleichzeitig Verständnis dafür schaffen, wie viel Arbeit in einem künstlerischen Prozess steckt.

 

Denn nur wer weiss, wie viel Mühe, Handwerk und Liebe in Kunstwerken steckt, kann die Arbeit von Künstler:innen wirklich wertschätzen. So wollen wir auch den Wert künstlerischer Arbeit für die Gesellschaft transparenter machen. Neben diesem aufklärerischen Ansatz ist die Serie aber auch ein Kulturvermittlungs-Projekt, weil sie beispielhaft zeigt, unter welchen Bedingungen Kunst und Kultur heute entstehen.

 

Was wir uns als thurgaukultur.ch auch erhoffen mit der Serie ist, dass ein neuer Dialog der Kulturschaffenden untereinander entsteht, aber nicht nur. Es soll auch ein Austausch mit dem Publikum, also unseren Leser:innen stattfinden. Das geht über unsere Social-Media-Kanäle, in denen wir direkt miteinander diskutieren können oder in der Kommentarspalte zu den einzelnen Beiträgen auf unserer Website. Wenn du konkrete Fragen an die teilnehmenden Künstler:innen hast, wenn dich ein Themenfeld besonders interessiert, dann kannst du mir auch direkt schreiben, ich leite dein Anliegen dann gerne weiter: michael.luenstroth@thurgaukultur.ch 

 

Alle erschienenen Beiträge der Serie bündeln wir im zugehörigen Themendossier.

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