von Markus Landert, 19.08.2024
Auf der Suche nach Adolf Dietrich
Der Regisseur und Stückeschreiber Oliver Kühn erweckt den Künstler Adolf Dietrich mit seinem «Theater Jetzt» in Berlingen zu neuem Leben. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
Wer war er denn, dieser Adolf Dietrich, der von sich gesagt hat: «Trotzdem ich nicht weit in der Welt mich habe umsehen können, habe ich doch ein innerlich bewegtes Leben hinter mir.» Gibt es da überhaupt etwas zu erzählen? Ja, es gibt!
So stürmt gleich zu Beginn des Abends eine Schulklasse auf die Bühne. Sie wollen das Adolf Dietrich-Haus besuchen und präsentieren der da arbeitenden Kunstvermittlerin Fränzi Neeser stolz ihr Wissen über den Künstler: Wann geboren, wann gestorben, Namen und Herkunft der Eltern und was es sonst noch an harten Fakten zu wissen gibt. Dietrich ist im Thurgau Schulstoff. Trotz ihres stolz vorgetragenen Wissens möchten die Kinder dann aber doch lieber möglichst schnell zum Bratwurstbräteln auf dem Arenenberg weiterfahren, was sie zur Belustigung des Publikums lauthals kundtun.
Kraft der Fantasie mit dem Künstler eine Reise unternehmen
Nach diesem fulminanten Auftakt bleibt die Kunstvermittlerin Fränzi Neeser allein auf der Bühne zurück. Auch sie will die Geschichte Dietrichs erzählen, obwohl sie ihr Studium abgebrochen hat. Die intellektuelle Analyse von Werken entsprach nicht ihrem bewundernden Blick auf den Maler und sein Werk. Sie will vor allem hinschauen, den Künstler und sein Werk erleben. Kraft ihrer überbordenden Fantasie schafft es Fränzi Neeser dann auch, sich ins Jahr 1925 zurückzuversetzen.
Sie verwandelt sich in Ida Füllemann, jenes dreizehnjährige Mädchen, das der Künstler mehrfach porträtiert hat, und das ihn nach Mannheim zur Eröffnung jener denkwürdigen Ausstellung begleitete, die den Verkaufserfolg von Dietrichs Werken einleitete. Das ungleiche Paar, kongenial gespielt von Sabrina Fischer und Oliver Kühn, begibt sich so auf die Reise in die ferne Stadt, in deren Verlauf Schlüsselszenen aus dem Leben des Malers aufgerufen werden: Dietrichs Arbeit als Fabrikarbeiter und Holzfäller, die Ablehnung des «Sonntagsmalers» durch die «Sachverständigen», die Entdeckung durch den Kunsthändler Herbert Tannenbau sowie die Überforderung des alternden Künstlers durch den Erfolg und die vielen Sonderwünsche seines wachsenden Publikums.
Goldene Zwanziger und geistige Landesverteidigung
Dieser theatralische Bilderbogen wird von den 12 Schauspielerinnen und Schauspielern des Teams in einer lustvollen Bewegtheit getanzt und gespielt, wobei die Livemusik von Sandro Scheebeli und Sara Calvanelli es schafft, die Ausgelassenheit der Goldenen Zwanzigerjahre musikalisch ebenso aufleben zu lassen wie die Stimmungslage der Zeit der geistigen Landesverteidigung. Wenn die Lieder «Nach em Räge schint Sunne» oder «Wänn eine tannige Hose hät» angestimmt werden, wird es beinahe volkstümlich und mancheine im Publikum summt mit. Dietrich hätte es gefallen.
Das alles findet unter der riesigen, im Park stehenden Trauerweide statt, die die Bühne überwölbt. Wer seinen Blick schweifen lässt, sieht die Sonne hinter dem Schiener Berg untergehen, was einen hellen Schimmer auf den Untersee zaubert. Genau so hat es Dietrich gesehen und gemalt. Fast scheint es, wie wenn Dietrichs Leben in einem seiner Bilder nacherzählt wird, denn mit Hilfe einiger herumschiebbarer Kisten verwandelt sich dieser Naturraum schnell in die Malstube in Berlingen oder den Galerieraum in Mannheim.
Das bestimmende Element aber bleibt der Baum, der die unbestrittene Naturliebe des Malers ständig präsent hält und nur folgerichtig legt sich der sterbende Dietrich nicht ins Bett, sondern er steigt ins Geäst hinauf, um am Ende des Lebens gleichsam in der Natur aufzugehen. Dies ist nur die berührendste der vielen gelungen umgesetzten Regieideen, mit denen Kühn und sein Team die Aufführung zu einem Erlebnis machen.
Ein theatralisches Feuerwerk
Einzelne Szenen aus Dietrichs Lebensbogen werden zu wahren theatralischen Feuerwerken, etwa die Auftritte des Kunsthändlers Herbert Tannenbaum, den Markus Keller in genialer Spielfreude als eine Verbindung von Zirkusdirektor und Cabaretbetreiber mimt.
Wie in einem lebendig gewordenen Gemälde von George Grosz präsentiert sich die deutsche Kulturelite der Goldenen Zwanzigerjahre in einem makabren Reigen von Tanzgirls und Kriegsversehrten. Der Kunstmarkt zeigt sich als ein zynisches Geschäft, in dem Unterhaltung und Spekulation über einer ernsthaften Auseinandersetzung mit den Kunstwerken stehen.
In einer anderen grossartigen Szene spürt das Theaterstück der Arbeitsweise Dietrichs nach. Um seine Furcht vor schnellen Eisenbahnzügen zu begründen, verweist der Künstler auf die Explosion des Dampfschiffs «Rheinfall» 1869 vor der Stedi in Berlingen, die er – obwohl damals noch gar nicht geboren - nach Illustrationen im Appenzeller Kalender zweimal malte.
Ein Schiffsuntergang als Sinnbild
Oliver Kühn inszeniert diesen Schiffsuntergang als dynamisches «Tableau vivant», in dem Schiffsbesatzung und Passagiere zuerst das Aufnehmen der Fahrt und dann den Schrecken von Explosion und Untergang mitreissend versinnbildlichen. In dieser Szene liefert die Choreografin Michelle Stahel ihr Meisterwerk ab, wie überhaupt die präzis geführten und von den Spielenden lebendig auf die Bühne gebrachten Massen- und Tanzszenen einen wesentlichen Beitrag zur Attraktivität des Stücks leisten.
Die Schiffsuntergangsszene wird zum Sinnbild für Dietrichs künstlerische Haltung, weil der Maler das dynamische Geschehen für einen Moment stoppen kann, was ihm die Möglichkeit gibt, genau hinzuschauen. Das genaue Hinsehen ist eine unabdingbare Grundlage seines Malens, das erst jene Bilder hervorbringt, die dem Publikum ein ähnlich intensives Schauen abverlangen.
In dieser Szene zeigt sich auch die kulturkritische Färbung, mit der Kühn seine Künstlerfigur ausstattet. Dietrichs Unwillen, sich auf die neue, immer schneller werdende Welt einzulassen, kann als Aufruf verstanden werden, der heute allgegenwärtigen Hektik und der Überfülle an Eindrücken etwas entgegenzusetzen. In seiner Malstube scheint die Zeit stillzustehen und in den Bildern ist für die Dauer der Betrachtung die Zeit wie aufgehoben. Hier können Schauende ganz bei sich sein.
Lob des Dorfes
Dietrichs Heimatliebe, seine Verbundenheit mit dem Dorf und dessen Gemeinschaft ist ein zweites Thema, das sich durch das ganze Stück hindurchzieht. Es gibt keine Zweifel, wo Dietrich herkommt, wo er leben will und wo er hingehört, selbst wenn die Dorfbewohner seine Malerei erst dann zu schätzen beginnen, als die Bilder für die meisten Berlinger unerschwinglich sind.
Diese Hommage an das Dorf wirkt für ein Stück des 21. Jahrhunderts etwas aus der Zeit gefallen. Oder will Oliver Kühn mit seiner heimwehgeplagten Dietrichfigur einfach darauf hinweisen, dass eine Heimaterfahrung, wie sie vor hundert Jahren gelebt wurde, heute nur noch als sanft schmerzendes Gefühl der Sehnsucht existieren kann?
Das Stück verharrt im alten Dietrichmythos
Insgesamt konstruiert Oliver Kühn fröhlich weiter am wohlbekannten Dietrichmythos, der im Maler einen überforderten, naiven Dorfbewohner sieht, der sich nur mit Mühe überwindet, in die ferne und verdorbene Stadt zu fahren, der von den «Kunstfuzzis» übers Ohr gehauen wird und der am Ende seines Lebens einsam und unverstanden stirbt: eine Thurgauer Version des Dramas vom verkannten Künstlergenie.
Ich selber ziehe eine etwas andere Erzählung vor: Darin ist Adolf Dietrich ein kluger, bauernschlauer Mann, der durchaus selbstbewusst und selbstbestimmt seinen Weg geht. Er steht mit hunderten Personen in brieflichem Kontakt, weiss genau, was ein gutes Gemälde ausmacht, und schert sich nur soweit um die Ansprüche seines Publikums, wie es ihm als gewieftem Verkäufer ratsam scheint. Ja, ich mag sogar das Bild des alten, manchmal überforderten Dietrich, obwohl der Künstler mir da nicht als ein Genie entgegentritt, sondern als ganz normaler Mensch, der mit den alltäglichen Widrigkeiten des Alters zu kämpfen hat.
Etwas holzschnittartig, trotzdem anregend
Dass die beiden Vorstellungen nicht zur Deckung gebracht werden können, tut dem Theatervergnügen keinen Abbruch. Kühns etwas holzschnittartige Interpretation der Dietrichfigur ist wegen ihren ironischen Brüchen und den spielerischen eingefügten Anachronismen anregend genug, um einen neuen Blick auf diese prägende Persönlichkeiten des Thurgaus zu provozieren.
Zudem wirft das Stück eine ganze Reihe hintergründiger Fragen auf, nicht nur zu Dietrichs Leben und Arbeiten, sondern überhaupt zum Umgang mit Bildern und Kunst. Und wer weiss: Vielleicht regt der Theaterabend zu einem Museumsbesuch an, wo vor Originalen das sorgfältige Schauen erprobt werden kann. Zu sehen sind Werke des Berlinger Malers im Museum zu Allerheiligen in Schaffhausen, im Kunsthaus Zürich und immer auch im Kunstmuseum Thurgau in der Kartause Ittingen.
Einen Kritikpunkt gibt es nur: alle Vorstellungen sind bereits ausverkauft und es braucht schon etwas Glück allenfalls an der Abendkasse oder über die Website noch eine zurückgegebene Karte zu ergattern. Dietrich ist exklusiv geworden.
Das Stück läuft noch bis zum 8. September in Berlingen. Infolge der grossen Nachfrage zur Musiktheater-Produktion "Adolf Dietrich - Musiktheater am See" und mit den Erfahrungen der ersten Vorstellungen haben sich die Veranstalter entschieden, pro Vorstellung - je nach Wetterlage - weitere Plätze anzubieten. Diese Plätze werden am Vorstellungstag bei entsprechender Wetterlage ab 15.15 Uhr über die Website freigeschaltet und können dann reserviert werden über ticket.lilo@bluewin.ch
Alle Beteiligten des Stücks
Stück und Regie: Oliver Kühn
Team: Oliver Kühn, Sabrina Fischer, Wolfgang Bollack, Theresa Brassel, Martina Flück, Sandra Flück, Veiko Helwig, Nadine Hochstrasser, Katharina Hörler, Markus Keller, Carolina Mazalesky, Marianna Pisano, Josef Reinbacher, Beat Seiterle, Regula Strähl, Lynn Tschirren, Markus Keller, Carolina Mazalesky
Bühne: Stefan Kreier, Wili Lutz, Yves Scherrer, Cyrill Vollenweider, Urs Koller
Kostüme: Joachim Steiner
Choreografie: Michelle Stahel
Maske: Jacqueline Kenel, Maske
Von Markus Landert
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