von Markus Landert, 25.09.2025
„Das Menschliche verliert mehr und mehr an Bedeutung“

In Zeiten von KI und digitaler Bilderflut setzt die Künstlerin Cornelia Schedler auf analoge Drucktechniken. Seit sie eine Druckerei geerbt hatte, investiert sie viel Zeit und Energie in jedes Werk. (Lesezeit ca. 5 Minuten)
Im Atelier von Cornelia Schedler in Frauenfeld ist nicht zu übersehen, dass ihre Arbeit mit Handwerk zu tun hat. Mitten im grosszügigen Raum steht eine Druckerpresse mit sechs Hebeln, die direkt verdeutlichen, wie viel Körpereinsatz das Drucken verlangt. Gleich daneben findet sich eine zweite Presse. Diese ist mit einem Elektromotor ausgerüstet: So passte sich auch die Drucktechnik im Lauf der Jahrhunderte den Ansprüchen und Bedürfnissen der jeweiligen Zeit an. Schweift der Blick weiter, fällt er auf Kisten voller Farben, auf eine Wärmeplatte, auf Schachteln mit Metallplatten und anderen gestaltbaren Flächen, die der Künstlerin als Arbeitsmaterial dienen.
Und mittendrin steht Cornelia Schedler, die seit über dreissig Jahren in diesem Experimentierraum zwischen Manufaktur und Denkstube ihre Suche nach gültigen Bildern und Erkenntnissen vorantreibt. Wer sich solch alter Technik bedient, muss sich auch der Frage stellen, welche Berechtigung dieses Handwerk in Zeiten von KI und den allgegenwärtigen Computerdrucken noch hat.
Die Kunst als Ort der freien Gestaltung
Aber warum wird jemand überhaupt zur Künstlerin? „Es hat sich wie natürlich ergeben. Ich bin in einem Künstlerhaushalt aufgewachsen. Mein Vater genauso wie mein Onkel arbeiteten im Kunstumfeld. Zeichnen und Malen war für mich schon so als Kind alltäglich“, sagt Schedler.
Dieses Aufwachsen mündete bei Cornelia Schedler allerdings nicht gradlinig in eine Karriere als Künstlerin. Zwar folgte nach dem Seminar in Kreuzlingen 1979 der Besuch des Vorkurses an der Kunstgewerbeschule in Zürich. Dann aber entschied sie sich für ein Leben, zu dem das Führen eines alternativen Restaurants in Winterthur ebenso gehörte wie später eine langjährige Tätigkeit an den Heilpädagogischen Schulen in Romanshorn und Frauenfeld. Parallel zur Erwerbstätigkeit betrieb sie zusammen mit ihrem Bruder Patrik in Zürich eine Galerie oder schuf ab 1989 in ihrem Atelier in Frauenfeld ihre eigenen Bildwelten.
Ein Leben als Künstlerin bedeutete bei ihr nie die ausschliessliche Konzentration auf das künstlerische Schaffen. Der damit verbundene Verkaufszwang oder die unablässige Suche nach finanzieller Unterstützung und Ausstellungsmöglichkeiten erschienen ihr zu einengend. Künstlerin zu sein, versteht sie eher als eine Lebenshaltung, die verbunden ist mit freier Kreativität und selbstbestimmter Gestaltung.
Entsprechend breit sind die Interessen von Cornelia Schedler. „Mich fasziniert auch die Modewelt. Modeschöpfer:innen schaffen bis heute mit realen Materialien.“ Selber in diesem Bereich tätig zu werden, war dann aber keine Option: „Um selber Stoffe herzustellen, fehlt mir den dazu notwendigen Hang zur Perfektion und ausserdem ist es fast unmöglich, im Textilgeschäft Fuss zu fassen. Zudem geniesse ich mit meiner Unabhängigkeit einen hohen Freiheitsgrad. Ich kann so schaffen, wie ich will, kann weiterentwickeln oder verwerfen gemäss meinen Interessen. Ich bin nur mir selbst verpflichtet.“
Spielerische Experimente mit jahrhundertealten Techniken
Aber wie kommt es, dass sich eine Künstlerin um 1980, als gerade die „Wilde Malerei“ aufkam, auf eine jahrhundertealte Technik einliess? Cornelia Schedler blickt zurück: „Ich habe mit der historischen Drucktechnik, die bis ins Mittelalter zurückreicht, eine Ausdrucksform gefunden, die mir total entspricht. Bis zum dreissigsten Lebensjahr habe ich vor allem gezeichnet und gemalt, also einiges ausprobiert. Dann hat mir mein Onkel Ende der 1980er-Jahre seine Druckerei vererbt und damit stand mir ein Instrument zur Verfügung, das unerschöpfliche Möglichkeiten bietet.“ Druckgrafik entsteht in einem komplexen, stark handwerklich bestimmten Prozess. Während beim Malen oder Zeichnen jeder Strich, jeder Pinselhieb dem entstehenden Bild eine neue Wendung geben können, erlaubt das Drucken wenig Abweichungen von vorbestimmten Abläufen.
„Bis zum dreissigsten Lebensjahr habe ich vor allem gezeichnet und gemalt, also einiges ausprobiert. Dann hat mir mein Onkel Ende der 1980er-Jahre seine Druckerei vererbt und damit stand mir ein Instrument zur Verfügung, das unerschöpfliche Möglichkeiten bietet.“
Cornelia Schedler, Künstlerin
Die Bildproduktion will sorgfältig geplant sein. Als erstes muss die Druckplatte gestaltet werden. Traditionellerweise handelt es sich dabei um Kupferplatten, die auf unterschiedliche Art und Weise bearbeitet werden können: Bei der sogenannten Kaltnadelradierung ritzen die Kunstschaffenden die Zeichnung mit einem Metallstift direkt in die Bleche. Bei der eigentlichen Radierung werden die gewünschten Formen in eine Schicht aus Asphaltlack auf der Platte eingekratzt. In einem Säurebad frisst die Säure die Linien ins Metall. Darüber hinaus gibt es komplizierte Techniken, um Raster für Helldunkeleffekte zu erzeugen, die mit so klingenden Begriffen wie „Vernis mou“, „Aquatinta“ oder „Schabtechnik“ benannt sind. In einem zweiten Schritt werden die bearbeiteten Platten eingefärbt und deren Oberfläche wieder saubergewischt. Erst dann geht es in die Druckerpresse, wo der hohe Druck die in den Rillen und Strukturen verbliebene Farbe auf das feuchte Papier überträgt.
Was sich anhört wie eine Technik mit wenig kreativem Spielraum, erweist sich bei Schedler als ein weites Feld für Experimente. Nicht nur kennt sie alle traditionellen Möglichkeiten im Umgang mit den Kupferplatten. Sie weiss genau, welche Effekte sie mit den Feinheiten des Ätzens, Kratzens und Ritzens auf den Blechen erzielen kann. Zudem experimentiert sie gerne mit unkonventionellen Farbträgern, etwa aufgefalteten Milchverpackungen. In deren Beschichtung lassen sich Formen einschneiden, was eigenwillige Formgebungen möglich macht.
Öfter bearbeitet Schedler diese Träger auch mit der Nähmaschine. Ja, mit der Nähmaschine! Mit ihr zeichnet sie geometrische Strukturen auf den plastifizierten Karton, was beim Einfärben und Drucken zu spannenden Ergebnissen führt. Oder sie nutzt Stoffstücke und Vogelfedern als Farbträger, was noch mehr bildnerische Möglichkeiten eröffnet.
Die Faszination von Muster und Ornament
Auch beim zweiten Schritt, beim eigentlichen Druck mit der Walze, geht Schedler unkonventionelle Wege. Oft verwendet sie mehrmals die gleiche Druckplatte auf demselben Papierbogen, wodurch Spiegelungen und Reihungen entstehen. Wenn sie mehrere Druckvorlagen nutzt, die dazu noch unterschiedlich eingefärbt sind, öffnet dies eine grenzenlose Vielfalt an Form- und Farbkombinationen.
Das Experimentieren und das Spiel mit dem Zufall sind für Schedler zentral: „Ist eine Form gefunden, beginnt eine Suche, ein Ausprobieren. Ich spiele mit den Formen, spiegle oder vervielfältige sie, bis sich ein Muster, ein Bild ergibt. Muster und Ornamente ziehen sich wie ein roter Faden durch mein gesamtes Werk“, meint sie. „Das starke Bedürfnis, Ordnungen zu schaffen, zwingt mich immer aufs Neue, Symmetrien, Spiegelungen und Wiederholungen zu kreieren. An der Natur mit ihrer wunderbaren Vielfalt habe ich ein nicht zu übertreffendes Vorbild. Muster faszinieren mich, weil sich in ihnen eine Ordnung zeigt. Ich selber bin ja eher eine chaotisch veranlagte Person und dieses Schaffen von Ordnung tut mir gut.“
Ornamente haben eine lange Tradition in der Kunstgeschichte. Allerdings ist deren Verwendung heute spektakulär unaktuell. Seit der Moderne gilt das Ornament als Verbrechen und die geometrische Kunst hat sich meist energisch dagegen verwahrt, als Auseinandersetzung mit dieser traditionellen Schmuckform verstanden zu werden. Cornelia Schedler lässt sich davon nicht beeindrucken: „Muster sind Abstraktionen und verweisen auf Vorhandenes. So ist die Natur voller Muster, Formwiederholungen und Symmetrien. Die Frage, ob diese Suche nach Mustern heute noch zeitgemäss ist, kümmert mich dabei eigentlich nicht. Ich nutze das Ordnung Schaffen als sicheren Hafen, damit ich in dieser Welt überleben kann.“
„Ist eine Form gefunden, beginnt eine Suche, ein Ausprobieren. Ich spiele mit den Formen, spiegle oder vervielfältige sie, bis sich ein Muster, ein Bild ergibt. Muster und Ornamente ziehen sich wie ein roter Faden durch mein gesamtes Werk“,
Cornelia Schedler, Künstlerin
Ornamente und Muster sind aber nicht die einzigen Themen von Cornelia Schedler: „Ich arbeite mit einer grossen Bandbreite an Motiven“, meint sie, „was auch gegenständliche Bilder mit einschliesst. Manche Themen wie Till Eulenspiegel mit dem Totenkopf widerspiegeln meine persönliche Haltung. Ich bin nicht sehr optimistisch, was die Zukunft unserer Welt anbelangt. Diese alten Symbolfiguren, zu denen auch Don Quijote und Sancho Pansa gehören, formulieren treffend menschliche Befindlichkeiten, die sich gut auf die heutige Zeit übertragen lassen. Kämpfen wir nicht alle den aussichtslosen Kampf gegen Windmühlen?“
Die Energie der Produzierenden ist wesentlich für jede Kunst
Inhaltliche Bezugspunkte findet sie aber auch in der Bilderflut der Massenmedien. So stammen die Motive für ein Blatt mit dreissig unterschiedlichen Druckplatten aus aktuellen Modeheften und Illustrierten: „Ich blätterte durch die Zeitschriften und führte eine Schablone so gross wie die einzelnen Druckplatten über die Seiten hinweg. So entdeckte ich jene Formen, die mich interessierten und zwar losgelöst von dem, was sie an Bedeutung vermitteln wollen. Das konnten Elemente aus einer Werbung für Kinderspielzeug oder für eine Brille von Versace sein. Oder ich habe einen Fotoausschnitt aus einem Bildbericht über eine Kirche benutzt.“
Die Bildausschnitte übertrug Schedler als Zeichnung auf die 30 Druckplatten, sodass oft nur noch eine Anmutung von Gegenständlichkeit übrigblieb. Durch das Fokussieren auf einen radikalen Bildausschnitt wird eine Badehosen-Werbung zum Experimentierfeld für bildnerische Ausdrucksmöglichkeiten. In jedem Bildelement stellt sich die Frage, warum bestimmte Linien oder Flächenaufteilungen unser Auge anzuziehen vermögen. Wie schliessen wir anhand ganz weniger Striche auf Gegenstände und werden dadurch emotional berührt?
Cornelia Schedler versteht Langsamkeit und Handwerklichkeit ihrer Produktion als eine kritische Gegenposition zur aktuellen gesellschaftlichen Situation. „Die Reizüberflutung in unserer Gesellschaft, die Überflutung mit der unüberschaubaren Menge an Angeboten führt nicht zu einer Bereicherung der Erfahrung, sondern zu einer Verarmung. Viele Leute leiden darunter. Wir werden doch als Menschen geboren und sterben als solche. Diese Grundkonstante hat sich in den Tausenden von Jahren nicht verändert. Doch versteigen wir uns immer mehr in eine Welt, in der uns vorgespielt wird, dass alles möglich sei. Das Menschliche verliert mehr und mehr an Bedeutung“, konstatiert sie.
„Die Energie der Produzierenden ist wesentlich für jede Kunst. Diese Energie fliesst ins Material, in den Stoff, in die Farben. Und das ist etwas anderes, als was aus einem Bildschirm herausleuchtet.“
Cornelia Schedler, Künstlerin
Sie versteht ihre Kunst als ein Schutzschild gegen diese Entwicklung. Sie versucht der Banalität des schnellen Konsums, der grassierenden Oberflächlichkeit in den Massenmedien und der Auflösung der Materialität in digitalen Bildern etwas entgegenzusetzen. Sie ist überzeugt davon, dass die Langsamkeit einer traditionellen Bildproduktion zu Werken führen kann, die mehr und anderes aussagen als die mit KI generierten Bilder. „Die Zeit und Energie, die in die Produktion von Bildern einfliessen, bestimmen die Wirkung der Bilder wesentlich mit. Ein mit dem Computer hergestelltes Bild kann nicht den gleichen Ausdruck entfalten. Es ist immer etwas anderes.“ Und weiter sagt Schedler: „Die Energie der Produzierenden ist wesentlich für jede Kunst. Diese Energie fliesst ins Material, in den Stoff, in die Farben. Und das ist etwas anderes, als was aus einem Bildschirm herausleuchtet.“

Von Markus Landert
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