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von Markus Landert, 08.10.2024

Die magische Grenze

Die magische Grenze
Die magische Grenze, am Hüttwilersee_, 2011 | © Nachlass Friedrich Kappeler

Der Dokumentarfilmer Friedrich Kappeler hat sein Leben lang auch fotografiert, diese Bilder aber kaum je ausgestellt. Jetzt öffnet das Buch «Im tiefen Thurgau» Einblick in sein Bilduniversum, das als persönliche Befragung der Möglichkeiten der Fotografie gelesen werden kann.  (Lesedauer: ca. 6 Minuten)

Friedrich Kappeler (1949 – 2022) war bekannt als erfolgreicher Dokumentarfilmer, dessen Streifen wie «Mani Matter – Warum syt dir so truurig?» oder «Adolf Dietrich – Kunstmaler 1877-1957» ein grosses Publikum fanden. Dass dieser Friedrich Kappeler auch fotografierte, wussten dagegen nur Eingeweihte. Zwar trug er oft einen Fotoapparat mit sich herum, die Produkte dieser Arbeit bekam aber kaum jemand zu sehen und auf die Nachfrage des Journalisten Dieter Langhart meinte er in einem Interview: «Ich fotografiere; vor allem privat, wie ein Tagebuch, fast nur schwarz-weiss und analog». 

Nun öffnet das von seiner Schwester Simone Kappeler herausgegebene Buch «Im tiefen Thurgau» Einblicke in diese private Bilderwelt des Dokumentarfilmers. Anhand von rund 200 meist chronologisch geordneten Aufnahmen entfaltet sich ein reichhaltiger Bilderschatz. Dieser beginnt mit Fotografien von Dritten aus dem Familienalbum der Kappelers, führt weiter über Bildserien, die während der Ausbildung an der Kunstgewerbeschule entstanden oder solchen, die Aufenthalte in Paris, Rom oder New York dokumentieren und endet mit späten Natur- und Landschaftsaufnahmen. 

 

Trauerweide, Berlingen, 2015. Bild: Nachlass Friedrich Kappeler

Rasante Veränderungen der technischen Möglichkeiten

Kappelers Ausbildung fiel in eine Zeit des Umbruchs. Obwohl er immer Filmemacher werden wollte, absolvierte er 1971 bis 74 die Fachklasse für Fotografie an der Kunstgewerbeschule Zürich. Erst anschliessend folgte ein Regiestudium in München. In dieser Zeit veränderten sich gerade mal wieder rasant die technischen Möglichkeiten der Fotografie. 1972 kam die SX70 Polaroidkamera auf den Markt, die das Sofortbild massentauglich machte und die Lichtbildnerei endgültig aus den Fesseln der Dunkelkammer befreite. 

Diese Kamera war einer der Marksteine einer Entwicklung, die das Fotografieren von einer Tätigkeit mit handwerklichem Charakter in eine intuitiv handhabbare Methode der Bildproduktion verwandelte. Autofokus, automatische Belichtung und dann im 21. Jahrhundert die Digitalisierung machten das Fotografieren für alle zugänglich, was zur heutigen, ungeheuren Bilderflut führt. 

Wie aber bewegte sich Kappeler in diesem Kontext? Zweifellos kannte er die aktuellen Möglichkeiten des Mediums a fonds und nutzte eine breite Palette an Fotoapparaten von der klassischen Plattenkamera bis zur trashigen Polaroidknipse. Allerdings scheinen ihn avantgardistische Experimente an der Spitze der technischen Entwicklung nur am Rand interessiert zu haben. Seine Aufmerksamkeit galt hauptsächlich der analogen Schwarz-Weiss-Fotografie, wobei er vorzugsweise mit professionellen Kameras arbeitete. 

 

Fritz Eberli, Müllsammler, Frauenfeld 1974. Bild: Nachlass Friedrich Kappeler

Dokumente des Wandels

Sein Interesse demonstriert er modellhaft im 1980 entstandene Bild «Der Fotograf und sein Modell», das auf dem Buchdeckel des Bildbandes prangt. Aufgenommen im Atelier von «Photo Weber» in Frauenfeld setzt es ein Denkmal für eine aussterbende Berufsgruppe. In dieser Zeit verschwanden gerade die letzten Fotoateliers aus Dörfern und Kleinstädten. Passbildapparat und Spiegelreflexkamera hatten den Dorffotografen als Porträtisten und Chronisten der Gesellschaft überflüssig werden lassen. 

Mit dieser Entwicklung beschäftigte sich Kappeler 1980 auch in seinem Spielfilm «Stolz oder Die Rückkehr» sowie 1986 im Dokumentarfilm «Der schöne Augenblick». Die Filme lassen nur einen Schluss zu: Wer weiterhin professionell fotografieren wollte, suchte Arbeit in der Grossstadt; als Fotoreporter, in der Werbung oder – ganz neu – in der Kunst. In Kappelers Spielfilm wendet sich der alte Dorffotograf einem privaten Projekt zu, das allerdings keinerlei Verdienstmöglichkeiten und Öffentlichkeit bietet. Er dokumentiert die gefährdete Schönheit der Heimat in nostalgisch gefärbten Landschaftsaufnahmen und will mit diesen Bildern eine Erfahrung des Verlustes bereitstellen. 

Auch Kappeler beschäftigte sich in den 1970er-Jahren mit der Dokumentation des Wandels. Er begleitete mit der Kamera den Abbruch des Bleichequartiers und hielt den Arbeitsalltag in der väterlichen Gerberei oder in der Kleinstadt Frauenfeld in stimmungsvollen Bildern fest. Seine Porträts der Menschen im Hutladen, beim Schuhmacher, in der Confiserie oder der Motorradwerkstatt zeichnen ein feinfühliges Sittenbild der damaligen Gesellschaft, die von heute aus gesehen bereits weit, weit zurückzuliegen scheint. 

In diesen Aufnahmen verbindet sich das Fotografieren nahtlos mit den gleichzeitig entstandenen Dokumentarfilmen über das Stadtoriginal Emil Eberli oder den Umzug seines Nachbars Heinrich Hotz ins Altersheim. Der Film scheint für Kappeler das geeignetere Instrument gewesen zu sein, um Menschen zu porträtieren und den gesellschaftlichen Wandel festzuhalten, entstehen doch nach 1976 kaum mehr Fotografien mit Dokumentationscharakter. 

Metapher für Entfremdung und Künstlichkeit 

«Der Fotograf und sein Modell» ist aber mehr als nur eine nostalgische Hommage an das Verschwinden eines Berufs. Es ist ein Selbstporträt, in dem Kappeler sein Verständnis der eigenen Arbeit verdeutlicht. Etwas linkisch steht er da, der Fotograf, und ist eben daran mit einer Plattenkamera, die aussieht wie ein Urtier der Fotografiegeschichte, eine junge Frau zu porträtieren.

Die Lampe hinter ihm signalisiert, dass ohne Licht in diesem Geschäft gar nichts geht und im Hintergrund kennzeichnet ein von Vorhängen gerahmtes Landschaftsbild das Fotoatelier als Bühne. Wer genau hinschaut, entdeckt unter dem linken Fuss des Fotografen den Fernauslöser jener Kamera, mit der die Scharade der Bildproduktion aufgenommen wird. 

 

Der Fotograf und sein Modell, Selbstportrait mit Elisabeth Meister im Atelier _Photo Weber, Frauenfeld, 1980. Bild: Nachlass Friedrich Kappeler

 

Mit dieser Selbstinszenierung als Dorffotograf skizziert Kappeler eine Theorie der Fotografie. Wichtig ist als erstes das Schauen, das Erkennen und Bestimmen des Motivs. In diesem Fall handelt es sich um Frau, gespielt von Elisabeth Meister, seiner damaligen Geliebten und Gefährtin, was das Modell auch zum Objekt des Begehrens macht. Allerdings schiebt sich die Kamera mit ihrem unersättlichen Objektiv zwischen den Fotografen und sein Modell, die beide wenig glücklich scheinen. Die Szene wird so zu einer Metapher für die Entfremdung und Künstlichkeit, die untrennbar mit dem Fotografieren verbunden ist: Die Kamera ist eine Maschine und die Bildproduktion ein mechanischer Prozess, der sorgfältig geplant und in dem nichts dem Zufall überlassen wird. 

Wichtig ist auch die Rolle des Ateliers, auf dessen Bühne die ganze Welt stattfinden kann. Oder andersrum: Ist ein Fotoapparat präsent, so wird die ganze Welt zum Atelier, zur Bühne. Jeder Ort, wo eine Kamera auftaucht, verwandelt sich in ein Theatrum Mundi, in ein Welttheater, auf dem sich jede Eitelkeit und Nichtigkeit des Lebens manifestieren kann. Aber auch wenn jede Fotografie nur eine scheinhafte, distanzierte und künstliche Wiedergabe der Wirklichkeit produziert, so ist es immerhin eine verlässliche Methode, die Welt zu sehen und wahrzunehmen, ja, das Gesehene auch im Bild festzuhalten und damit verhandelbar zu machen.

Was aber ist die Wirklichkeit? 

In diesem Welttheater ist es der Fotograf, der schaut und über Nähe oder Distanz entscheidet. Kappeler wählte das Private, Intime, - das Tagebuchähnliche als Bühne. Er fand viele seiner Motive in seiner nächsten Umgebung, in der Familie, bei Freunden und Bekannten, aber auch immer wieder in der Thurgauer Landschaft. Die Bilder legen Zeugnis ab von dem, was Kappeler sah, wenn er in der Nachfolge von Robert Walser durch die Gegend streifte: die Blüten des Holderbuschs, das Lichtspiel von auf am Boden liegenden Ästen im Wald, der Wind in der Krone der Trauerweide am Ufer des Bodensees, ein Bauernhaus im Nebel, eine von der Sonne hinterleuchtete, sich auftürmende Gewitterwolke hinter einem Telefonmast und Bahngleis im Hinterthurgau. 

Dabei haben viele seiner Motive etwas Beiläufiges, ja fast Zufälliges, was allerdings nichts mit der voll automatisierten Bilderernte heutiger Fotografierwut zu tun hat. Kappeler benutzt eine Hasselblad, bei der für jedes Bild Blende, Belichtungszeit und Tiefenschärfe manuell eingestellt werden musste. Er blieb der Fotohandwerker, der das Gesehene nach allen Regeln der Kunst und des fotografischen Handwerks ins Bild setzte. 

 

«Zuerst leuchtete einfach die Rutschi und dann ist es mir vorgekommen, als scheinen meine eigenen Kindervergnügenzu mir herüber.», Langwiesen am Rhein, 2011. Bild: Nachlass Friedrich Kappeler

Was ihn wirklich interessierte an der Fotografie

Sein Interesse am scheinbar Alltäglichen umschrieb er in einem im Buch abgedruckten Manuskript wohl auf sich selbst bezogen so: «Manchmal wünschte er sich, dass das, was er zufällig photographierte dadurch, dass es photographiert wurde, einmalig würde, zu einem Dokument seiner selbst, gewissermassen und so irgendwie aussergewöhnlich». Die so entstehenden Bilder seien dann ein Instrument, um «an der Wirklichkeit teilnehmen zu können». 

Kappelers Aufnahmen sind, was bei Fotografien nicht überrascht, Abbilder bestimmter Situationen oder Gegebenheiten. In seinen späten Arbeiten wird dieser Abbildcharakter allerdings nebensächlich. Sein eigentliches Motiv ist das Scheinen des Lichts: wie eine Kinderrutsche hell im Sonnenlicht aufleuchtet, wie ein Schimmel schimmernd vor dem dunklen Scheunenraum erscheint, wie sich letzte Sonnenstrahlen hinter dem Churfirstenkamm in den Wolken brechen. 

Schattierungen wie ferne Erinnerungen

Kappeler muss fasziniert gewesen sein von der Magie solcher Lichtmomente, die dann später in der Dunkelkammer greifbar wurden, wenn sich auf dem belichteten Fotopapier die Schattierungen wie ferne Erinnerungen zu einem Bild verfestigten, wenn sich die Wirklichkeit in ihrer bildnerischen Wiedergabe zeigte, die aber immer etwas anderes – ein Bild eben – ist. Er suchte «die magische Grenze» – so der Titel einer Fotografie vom Hüttwilersee, auf der sich ein Sprungbrett und der Himmel so im See spiegeln, dass das Abbild der Wirklichkeit und dessen Spiegelung an einem nicht fassbaren Punkt ineinander übergehen. 

 

Die magische Grenze, am Hüttwilersee,  2011. Bild: Friedrich Kappeler

 

Eine solch magische Grenze trennt auch die Wirklichkeit – oder die Erinnerung daran – und seine Fotografien. In diesem Bruch zwischen diesen beiden Wirklichkeiten kann sich dann die Neugierde, Fantasie und kreative Interpretation der Betrachtenden einnisten und es gleichzeitig stellt sich unausweichlich die Frage: Was ist das denn überhaupt, die Wirklichkeit? 

 

Schuhmacher Wiesmann, Kurzdorf, Frauenfeld, 1973. Bild: Nachlass Friedrich Kappeler

 

Das Buch

Simone Kappeler (Hrsg.): Friedrich Kappeler – Im tiefen Thurgau, Edition Selene
Zu erwerben in allen Buchhandlungen im Kanton Thurgau. 

 

Die Filme von Fritz Kappeler wurden 2023 restauriert und digitalisiert. Sie sind als DVD-Box in Buchhandlungen erhältlich oder können bei www.filmingo.ch oder www.filmo.ch gestreamt werden. 

 

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