von Andrin Uetz, 26.09.2022
Auftakt mit Ansage

Wie sorge ich fürs Alter vor? Wie passen Elternschaft und Künstlertum zusammen? Und wie gestalte ich mein Leben als Künstler:in? Die erste Thurgauer Kulturkonferenz stellte drängende Fragen - und gab auch Antworten. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
Wenn die Kulturstiftung zu einer 1. Thurgauer Kulturkonferenz lädt, so scheint sie damit weniger die Neuartigkeit dieses Unterfangens betonen zu wollen, sondern darauf zu verweisen, dass es noch weitere Kulturkonferenzen geben soll. Und angesichts der dringlichen Themen, welche auf dem Programm standen, wird es diese auch brauchen.
„Elternschaft, Alter, Körper, CV?” sind im Kontext der prekären Arbeitsbedingungen vieler Kulturschaffenden Begriffe, welche eher Unbehagen auslösen. So geht es nach einem Grusswort von Regierungsrätin Monika Knill auch gleich zur Sache. Sie verwies in ihrer Ansprache unter anderem auf das neue Kulturkonzept, welches gerade veröffentlicht wurde. Unter anderem gibt es 2 Millionen mehr für Kultur, das heißt insgesamt knapp 15 Millionen pro Jahr.
Was wird gefördert und wer geht leer aus?
In einem Impulsgespräch stellt der Musiker und Mitinitiant Fabian Gisler die Initiative Musikvielfalt Stadt Basel vor, welche eine gerechtere Verteilung der Fördergelder einfordert.
In Basel gehen derzeit von einem Gesamtbudget von rund 150 Millionen Franken 15.2 Millionen an die Musik, wovon wiederum 97 Prozent in die sogenannte Klassik fliesst.
Für alle anderen Musikstile (Jazz, Rock, Pop, Techno, Electronica etc.) bleiben gerade mal 3 Prozent, also 490’000 Franken. Die Initiative fordert, dass mindestens ein Drittel der Fördergelder an Musik jenseits des bildungsbürgerlichen Kanons geht.

Einseitige Förderung - auch im Thurgau
Fabian Gisler erzählt vom bereichernden und herausfordernden Austausch mit Bewohner:innen auf der Strasse, welche oft nur sehr wenig über die Verteilung dieser öffentlichen Gelder wüssten. Die Lektüre der Stiftungsberichte sei schlicht eine Offenbarung, wobei es nicht darum ginge, die eine gegen die andere Art von Kunst auszuspielen.
Übrigens: Auch im Thurgau zeigt der Blick auf den Stiftungsbericht der Kulturstiftung sowie die gesprochenen Beiträge aus dem Lotteriefonds des Kulturamts sowie deren Leistungsvereinbarungen, dass Musik und insbesondere „Jazz, Rock, Pop, Hip-Hop, World-Music” schon eher dürftig ausgehen.
Teilhabe, soziale Ungleichheit, Intersektionalität
Das Fallbeispiel aus Basel war auch insofern gut gewählt, als sich dabei ein blinder Fleck im Fördersystem zeigt, der erst nach und nach besser beleuchtet wird: Eine Verwaltung fördert das, was sie kennt. Es gehe weniger um Unverständnis als um Unwissen, so Gisler.
Der prekäre Arbeitsalltag freier Musikschaffender korrespondiert mit einem Diskurs zu unsichtbarer Arbeit, fehlender Chancengleichheit, Diskriminierung und Intersektionalität.
So ist die Diskussion bereits vor der ersten Pause eröffnet, und es sind dank einem erfreulich zahlreichen und vielseitigen Publikum auch durchaus verschiedene Meinungen zu hören: Von „Wer Kunst studiert, muss sich das Prekariat leisten können” über „Wenn wir übers Geld reden, können wir gleich aufhören”, von „Gatekeepern”, „Inklusion” und „Identitätspolitik” bis zum „Grundeinkommen” waren verschiedene Standpunkte und Ideen im Raum.

Zahlen, Statistiken, Beitragslücken und Zahnschmerzen
In vier parallel laufenden Workshops wird darauf zu den Themen „Elternschaft” (mit Regine Helbling, Geschäftsleitung Visarte Schweiz), “Alter” (mit Benedikt Wieland, Musiker und Leiter Soziale Vorsorge Sonart), “Körper” (mit Cornelia Huber, Atemtherapeutin), und “CV” (mit Philipp Meier, Künstler und Journalist) diskutiert. Der Autor dieses Textes schloss sich der Gruppe an, welche das Thema Altersvorsorge behandelte.
In einem Impulsreferat präsentierte Benedikt Wieland einige unangenehme Zahlen, so seien über 50 Prozent der Kulturschaffenden in der Schweiz selbstständig erwerbend, wobei hingegen nur 70 Prozent dieser Selbstständigen AHV Beiträge errichten (Stichwort Beitragslücken). Besonders prekär ist dabei auch, dass über 50 Prozent der selbstständig erwerbenden Kulturschaffenden über keine Krankentaggeldversicherung verfügen.
Bei 60 Prozent Kulturschaffenden, welche mit 40’000 CHF oder weniger im Jahr auskommen müssen, erstaunt wiederum nicht, dass für diese eher teure Versicherung genauso das Geld fehlt wie für den Aufbau einer dritten Säule.
Etwas plakativ gesagt befinden sich viele Kulturschaffende in einer Selbstständigkeit, die an sich gar nicht funktioniert, und wenn keine anderen Mittel vorhanden sind, fast zielsicher in eine Altersarmut führt.

Das Dilemma der Gig-Economy
Wie prekär die Situation der Kulturschaffenden ist, unterstreichen einige Kommentare aus dem Plenum. „Wenn ich AHV bekomme, so habe ich immerhin ein Einkommen. Ich muss mich erst mal solange durchschlagen”, gibt jemand zu bedenken. Andere wiederum berichten davon, dass sie sich Krankheit nicht leisten könnten, oder den Besuch beim Zahnarzt aufschieben.
Ein Dilemma vieler Kulturprojekte ist, dass sie aus wirtschaftlicher Perspektive gar nicht erst durchgeführt werden dürften. Im Glauben an die Wichtigkeit der eigenen Tätigkeit entrichten viele Kulturschaffende ihre Arbeit für viel zu niedrige Honorare.
Ebenso können es sich viele gar nicht leisten, schlecht bezahlte Aufträge abzulehnen, weil sie nehmen müssen, was kommt. An diesem Punkt entfacht sich in der Gruppe eine Diskussion über Eigenverantwortung der Künstler:innen (aus Perspektive der Förderinstitutionen und der Politik) und ungenügender Förderung (Standpunkt Künstler:innen und Veranstalter:innen).
Warum reden wir überhaupt von Kulturförderung?
In einer abschliessenden Podiumsdiskussion sind die Workshop-Leiter:innen eingeladen, kurz die wichtigsten Ergebnisse ihrer Gesprächsrunden zu präsentieren. Von CVs, welche grosse Abweichungen vom ursprünglich gelernten zeigen, über Elternschaft, welche sich oft kaum mit einem Leben für die Kunst vereinen lassen – insbesondere nicht für Künstlerinnen! – geben die Ergebnisse wenig zu lachen.
Immerhin sei im Workshop zum Thema Körper viel gelacht worden, denn dort wurde das Lachen kultiviert – was Angesichts der eher schwierigen Zeiten durchaus emanzipatorische Qualitäten hat.

Unter vielen Wortmeldungen aus dem Publikum sollen hier wenigstens zwei davon noch festgehalten. Einerseits die wichtige Differenzierung der Illustratorin Rina Jost, dass es bei den Bemühungen um Inklusion nicht um Identitätspolitik geht, sondern darum einer intersektionalen Benachteiligung entgegenzuwirken.
Sie bezog sich dabei auf einen etwas spöttischen Kommentar zur Frage nach der Zusammensetzung der entscheidenen Gremien im Kanton, dass mit Anders Stockholm ja eine Person mit Migrationshintergrund den Stiftungsrat der Kulturstiftung präsidiere.
Strassenbau-Förderung sagt ja auch keiner
Andererseits gab der Schauspieler Giuseppe Spina zu bedenken, dass es doch absurd sei von Kulturförderung zu sprechen, da wir schliesslich, wenn ein Bauunternehmen einen Auftrag bekomme eine Strasse zu bauen für das Gemeinwohl, auch nicht von Strassenbau-Förderung sprächen.
Kultur sei für unsere Gesellschaft von so grosser Wichtigkeit, dass wir sie als Notwendigkeit und mit Dankbarkeit finanzieren sollten.


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