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Das Klanglabor

Das Klanglabor
Geht direkt in den Bauch: Stefan Philippi an der Trommel in seinem Ohrenkino. | © Daniel Ammann

In seinem Ohrenkino experimentiert Stefan Philippi mit archaischen Mitteln am Sound unserer Zeit. So hat er einen überraschenden wie überwältigenden Kulturort im Thurgau geschaffen. (Lesedauer: ca. 6 Minuten)

Ein Freitagabend in Arbon. Sechs Menschen sitzen auf einfachen Holzhockern im Halbdunkel und warten. Ein grosser Raum mit hoher Decke breitet sich vor ihnen aus. In der hinteren Ecke dieses Raumes steht ein Gerät, das an ein Xylophon erinnert, aber aus Metallrohren besteht. Auf der rechten Seite des Raumes glimmt in der Dämmerung eine Badewanne. Darauf ein hohes Metallgestell verbunden mit Wasserleitungen. In der Wanne liegen Plastikflaschen. Mitten im Saal ruht gelassen eine grosse Trommel; an einer anderen Wand hängt eine Konstruktion, die aussieht wie das Steuerrad eines riesigen Piratenschiffs.

Und das passt ja auch ganz gut. Die Reise, die an jenem Freitagabend hier beginnen wird, hat etwas Abenteuerliches. Eigentlich gibt es für das, was hier in der nächsten Stunde passieren wird, auch keine Worte. Zumindest keine angemessenen. In einem Moment klingt es nach Spukschloss, in einem anderen nach Tempelanlage. Es schwingt, es raschelt, es kratzt, es heult, es rasselt. So sehr, dass sich am Ende beinahe der gesamte Raum in Klang auflöst. Und mitten in dieser Szenerie stehen: ein Mann in beigefarbener Hose, weissem Hemd und beigefarbener Weste, barfuss, sowie eine Frau ganz in Schwarz gekleidet, ohne Schuhe. Es sind: Stefan Philippi, Erfinder dieser Kunstform namens Ohrenkino, und Alexa Vogel, Sopranistin.

Was sie spielen ist Volksmusik. So definiert es Stefan Philippi jedenfalls selbst auf seiner Website: «Der Klang, der im Ohrenkino dargestellt wird, ist genauer ausgedrückt das Innenleben des Klangs oder der Klang im Klang, der Strukturen der Naturtonleiter entspringt. In Anlehnung an die Volksmusiken, die diese Tonleitern verwenden, in der Schweiz zum Beispiel der Naturjodel, und der Tatsache, dass im Melodiebereich vorwiegend pentatonische Skalen Verwendung finden und im rhythmischen Strukturen aus den Volksmusiken dieser Welt, ist die Musik des Ohrenkinos Volksmusik. Genauer gesagt Imaginäre Volksmusik, weil die Objekte im Ohrenkino keinen Anspruch erheben, ein Instrument zu sein.»

 

Stefan Philipp in seinem Ohrenkino. Bild: Daniel Ammann

Ohne Handwerk keine Kunst

Seit 2005 lebt Stefan Philippi in Arbon. Er ist Schreiner und Künstler und beides ging in seinem Leben immer Hand in Hand: „Ohne handwerkliches Know-how wäre all das, was ich künstlerisch gemacht habe, nicht möglich gewesen“, sagt er. In den vergangenen fast 20 Jahren hat er am Bodenseeufer zahlreiche Projekte realisiert. Kunstfestivals wie die Arbonale zum Beispiel, bei der es ihm schon damals darum ging, der Klangkunst einen gebührenden Platz in der Kunstgeschichte zu verschaffen. „Das wird bislang sehr vernachlässigt, dabei gibt es doch herausragende Beispiele dafür, wie man aus Klang Kunst kreieren kann“, sagt Philippi in einem Telefonat ein paar Tage nach dem Konzert.

Im Klang findet er ganze Welten, schon seit Jahrzehnten ist er in diesem Sinne auch Materialforscher. „Mich interessiert, wie unterschiedliche Dinge klingen. Und das probiere ich dann aus“, beschreibt Philippi bescheiden, was er tut. Holz, Stein, Metall, Plastik, es gibt im Grunde kein Material, das er nicht schon auf Klangfähigkeit untersucht hätte. Diese Forschung ist für ihn zur Lebensaufgabe geworden, er hat sich auch einen philosophischen Überbau dazu erschlossen, der bis zu Pythagoras reicht. Für ihn sei das wichtig gewesen, für die Aussenwirkung seiner Kunst spiele es aber eigentlich keine Rolle.

Video: So klingt das Ohrenkino (Regie und Schnitt: Modo | Kamera: Daniel Ammann)

ohrenkino_impression_1 from Modo on Vimeo.

Der Klang und der Körper

Jede und jeder könne fühlen, was er fühlt. Unterschiedliche Materialien wirken auf unterschiedliche Körperbereiche: „Metall zielt auf den Kopf, Stein in den Brustraum und mit Tierhaut bespannte Trommeln direkt auf den Bauch“, zählt er auf. Und da hört es ja nicht auf. Die Form spielt eine entscheidende Rolle: „Ein Quadrat klingt anders als ein Rechteck“, erklärt Stefan Philippi, der sich auch zum Musiktherapeuten fortgebildet hat.

Er bietet auch Konzerte an, bei denen das Publikum mit verbundenen Augen in Liegestühlen liegt und den Klängen lauscht. Aber eigentlich findet er, dass Ohr und Auge gemeinsam am besten wirken, um das zu erfassen, was er vorführt. Den Namen Ohrenkino habe er schliesslich mit Bedacht gewählt: «Es geht um die Darstellung des Klangs im hörbaren und auch sichtbaren Bereich und um die Grundelemente des Kinos: Licht und Bewegung», so Philippi.

Ein Ninja des Klangs

Vielleicht fürchtet er auch mit der Liegestuhl-Nummer zu weit weg von der Kunst und zu nah an die Übersinnlichkeit zu kommen. Sein Publikum im Ohrenkino will er jedenfalls nicht heilen. Es geht ihm eher um die Öffnung der Ohren. Und manchmal auch der Augen. Zum Beispiel, wenn er plötzlich vor einem steht und seine Klangstäbe durch die Luft wirbelt und ihnen die erstaunlichsten Töne entlockt. Die Bewegungen sind ninjagleich und es stimmt ja schon: Für das, was Stefan Philippi da seit Jahrzehnten aus gewöhnlichsten Materialien herausholt, immer und immer wieder ausprobiert, weitermacht, ganz egal wie viel Aufmerksamkeit er dafür bekommt, braucht es Durchhaltevermögen und Mut. Vielleicht ist er einfach ein Ninja des Klangs.

Nach Jahren des Herumexperimentierens in seinem Klanglabor will Stefan Philippi jetzt einen Schritt weitergehen. Die Klänge sollen erwachsen werden und in einen musikalischen Kontext, also ein Konzert, eingebettet werden. „Musik ist für mich eine geordnete Form von Klang“, sagt Philippi. Für ihn ist es die logische Fortsetzung dessen, was ihn seit Jahren beschäftigt. Deshalb hatte er im Januar und Februar auch die Konzertreihe „Wintermezzo“ gestartet. Klänge nur zu improvisieren habe auch seinen Reiz, „aber man dreht sich dabei irgendwann im Kreis, deshalb suche ich jetzt nach einer Form, die darüber hinausgeht“, erklärt der Klangforscher.

 

Ein Sound, der direkt in den Bauch geht. Bild: Daniel Ammann

Das Skulpturenorchester spielt auf

In der Theorie hat er diese Form bereits gefunden - es ist das Skulpturenorchester, das aus Instrumenten besteht, die Philippi selbst gebaut hat. Schräg von der Decke baumelnde Quader, an denen man ziehen muss, um ein prasselndes Geräusch zu erzeugen, wankende Fässer, die Klangbewegungen in flackernder Lichter übersetzen, runde Sägeblätter, die er auf kleine Säulen montiert hat und deren Klang von einem darüber schwebenden Metallrohr stetig im Raum verteilt wird. Diese unterschiedlichen Gruppen bringt er in seinen Konzerten ins Gespräch, wie er es nennt. Mit hohen und tiefen Tönen. So wächst eine ganz eigene Komposition, die eben nicht nur zufällig aus Improvisationslust entsteht.

Töne haben für Philippi auch immer mit Bewegung zu tun. Aber nicht nur das Material wird bewegt, sondern auch er selbst bewegt sich während des Konzertes durch den Raum. Auf leisen Sohlen. Mal eher schreitend, mal eher schwebend. Aber immer mit dem klaren Blick dafür, was es als Nächstes braucht, um das Werk voranzutreiben. Im Laufe der Komposition folgt er einem klaren Klangweg durch seinen Instrumentenparcours. Wann er welche Töne anschlägt, folgt einem Plan. Es gibt auch Rhythmus- und Tempiwechsel. Ganz so, als wäre es ein klassisches Orchesterkonzert.

 

Fässer, die klingen und leuchten. Bild: Daniel Ammann

 

„Drei Ebenen des Klangs“ hiess beispielsweise das Konzert mit Sopranistin. „Die Stimme der Sopranistin Alexa Vogel begegnet verschiedenen Materialgruppen“, hiess es nüchtern im Ankündigungstext eines Programmflyers. In Wahrheit verschmolzen am Ende ihre Stimme und seine Klangkünste zu einem verblüffend-berührenden Erlebnis. „Ich will den Klang nicht verherrlichen, er ist auch nur Teil der Materie. Aber anders als das Auge, das immer nach aussen blickt, bringt das Hören die Welt zu einem rein. Man hört dabei eben immer auch in sich“, sagt Philippi, der in Arbon das fortsetzt, was er vor Jahrzehnten im deutschen Ludwigsburg nahe Stuttgart begonnen hatte: Die Entdeckung des Klangs.

Video: Das Ohrenkino bietet auch was fürs Auge (Regie und Schnitt: Modo | Kamera: Daniel Ammann)

 

Wie Pink Floyd seine Arbeit beeinflusst hat

Sein Faible für Klänge reicht weit zurück - bis in die 1970er Jahre. „Musik war damals für mich ein Riesenthema, Pink Floyd waren noch sehr experimentell, mich hat vor allem der handwerkliche Aspekt daran interessiert, herauszufinden, wie etwas warum klingt“, erläutert Stefan Philippi seinen Weg in die Klangkunst. Seine Euphorie für die Musik von heute hält sich demgegenüber in Grenzen, sie sei zu technikdominiert: „Man weiss ja manchmal nicht, was da von der Maschine kommt und was noch vom Menschen stammt“, kritisiert er.

Dieser Technikgläubigkeit will er etwas entgegensetzen: Die Sinnlichkeit seiner Konzerte, die Haptik seiner Instrumente, das Erleben im gegenwärtigen Moment und nicht in digital vermittelten Welten. In manchen Momenten klingt Stefan Philippi in seiner Argumentation wie ein Esoteriker. Dabei liegt ihm das fern: „Esoteriker blicken verklärend auf die Vergangenheit, das ist nicht meine Perspektive. Mir geht es nicht um Magie, sondern darum, dass jedes Ding einen Klang hat.“ Dass es trotzdem so etwas wie spirituelle Momente in seinen Aufführungen geben kann, verhehlt er nicht. „Wenn Spiritualität entsteht, dann passiert das aus dem Augenblick, es ist nicht etwas, das ich suche oder versuche herzustellen“, sagt der Klangforscher.

 

Perspektive von oben: Stefan Philippi an der grossen Trommel. Bild: Daniel Ammann

Werden wir am Ende zu Hörern unserer Selbst?

Tatsächlich kann man sich diesem Gefühl kaum entziehen. Es fühlt sich bisweilen spirituell an, wenn Stefan Philippi seine Instrumente zum Klingen bringt und dann der ganze Raum zu schwingen scheint, weil der Sound in einem so vibriert. Vielleicht sagt das aber auch mehr darüber aus, wie wir geprägt sind, in dem, was wir als spirituell wahrnehmen. Oder es gilt hier auch für den Klang, was Marcel Proust einst über die Literatur sagte: dass jeder Leser, wenn er liest, nur ein Leser seiner selbst ist. Wenn also in diesem Sinne auch jeder Hörer, wenn er hört, nur ein Hörer seiner selbst ist, dann ist Kunst und Klang ganz allgemein, immer vor allem eines - eine Reise zu sich selbst.

Stefan Philippis Reise ist noch lange nicht zu Ende. Nächster Halt: Die Ohrenkinotage Ende September dieses Jahres. Gemeinsam mit 50 Schülerinnen und Schülern aus Arbon wird er eigene Klangskulpturen bauen und mit einem Kunstfestival drei Wochen lang eine grosse Wiese am Bodenseeufer bespielen. „Das wird toll, darauf freue ich mich sehr“, sagt Stefan Philippi.

 

Das Ohrenkino

Im Ohrenkino geht es um die Darstellung des Klangs im hörbaren und auch sichtbaren Bereich und um die Grundelemente des Kinos: Licht und Bewegung. Zu diesem Zweck sind
25 Klangobjekte von vier Künstlern installiert, die in konzertanter Weise oder in ‹Ohrenkino aktiv› mitspielenderweise in einem musikalischen Kontext erlebbar werden. Es gibt auch die Möglichkeit, dem Konzert mit verbundenen Augen zu folgen, um sich noch mehr auf den Klang konzentrieren zu können.

Wer das Ohrenkino mal selbst austesten möchte:

Kontakt und Reservierung:
Ohrenkino
Stefan Philippi
Weitegasse 6
9320 Arbon
076 414 78 16
stefan.philippi@gmx.de
www.ohrenkino.ch

 

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