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von Anabel Roque Rodríguez, 19.06.2020

Die Geburt der Corona-Kunst

Die Geburt der Corona-Kunst
Unser Leben mit dem Virus: Die Ausstellung «Kunst im Ausnahmezustand» im Museum im Lagerhaus versucht eine erste Annäherung | © zVg

Wie hat die Pandemie unsere Leben verändert? Die Ausstellung «Kunst im Ausnahmezustand» im St. Galler Museum im Lagerhaus versucht eine erste künstlerische Bestandsaufnahme.

Das Museum im Lagerhaus bleibt seinem Anspruch treu, ein offenes Haus für jede und jeden sein zu wollen und reagiert mit der Ausstellung «Kunst im Ausnahmezustand» auf die ersten Monate der Koexistenz von Mensch und Coronavirus. Per Newsletter hatte das Museum seine LeserInnen aufgefordert, Werke einzusenden, die das Leben mit dem Virus thematisieren. Dabei wurden kaum Vorgaben gemacht, ausser dass es in der Grösse zwischen Postkartenformat bis maximal A3 reichen sollte. Ansonsten war von Zeichnung bis Collage alles erlaubt.

Dorothee Haarer, Kuratorin der Ausstellung, erzählt, dass sie sich erst nicht sicher waren, ob tatsächlich genügend Werke für eine kleine Ausstellung zusammenkommen würden. Das Experiment gelang. Am Ende gab es mehr als 145 Einsendungen. «Das weitest gereiste Werk stammt aus Peru», sagt Kuratorin Haarer. Die Resonanz habe das Museum gefreut und vor Herausforderungen gestellt: «Wir sind ein kleines Team von gerade einmal fünf Personen, davon nicht alle in Vollzeit. Bei einem solchen Projekt muss dann das ganze Team mithelfen», so Haarer.

Einblicke in die Ausstellung: Mehr als 145 Arbeiten wurden eingereicht. Bild: zVg

Ehrliche Emotionalität statt Blockbuster

In einer kleinen Rekordzeit von gerade einmal einer Woche wurden die Einsendungen gesichtet, katalogisiert und unten im Vorraum des Museumshop als kleine Ausstellung gehängt. Wenn man bedenkt, dass Museen für gewöhnlich lange Vorlaufzeiten von mindestens einem Jahr haben, und spontane Reaktionen auf aktuelle Entwicklungen häufig eher im Rahmenprogramm auftauchen als in den Ausstellungen, ist das eine starke Leistung.

«Es ist eine Ausstellung über das, was Menschen im Augenblick berührt. Bei den Arbeiten wird etwas transportiert und rübergebracht. Als Museum, das sich Autodidakten widmet, dürfen wir emotional sein. Bei Ausstellungen kann man entweder mit Blockbuster Namen Besucher anziehen oder über ehrliche Emotionalität Besucher erreichen. Uns interessiert was Menschen berührt.», äussert die Kuratorin der Ausstellung ihre Motivation zur Ausstellung.

«Es ist eine Ausstellung über das, was Menschen im Augenblick berührt.»

Dorothee Haarer, Kuratorin

Die Werke geben Einblicke in die gegenwärtige Lebensrealität von Menschen unter COVID-19: Bilder zum Thema Social Distancing, Isolation, dem Vermissen von Freunden; andere äussern politische Kritik: auf einem Werk sieht man ein Porträt von Donald Trump mit dem Zusatz «Corona ist für ihn sicher ein Mädchenname». Die St. Galler Künstlerin Katrin Mosimann zeigt eine Assemblage aus drei Teebeuteln mit dem Zusatz «gut, dann mal abwarten und Teetrinken» aus der Gruppe «Gebeutelte». Man sieht aber auch Ansichten von St. Gallen oder Naturbeobachtungen und auch Darstellungen aus privaten Räumen.

Die Ausstellung versucht nicht zu kategorisieren oder zwanghaft Themen zu suchen, sondern zeigt authentisch, wie unterschiedlich die Pandemie von Kindern sowie Erwachsenen, Laien wie auch professionell tätigen Künstlern wahrgenommen wird. Es ist ein authentischer Versuch eines Museums, eine Diskussion auf Augenhöhe mit der Öffentlichkeit zu führen und das häufig abstrakte Konzept der Öffentlichkeitsarbeit mit Leben zu füllen.

Noch bis 5. Juli läuft die Ausstellung in St. Gallen. Bild: zVg

Die alte Frage: Wer gilt eigentlich als Künstler?

Was ist eigentlich Kunst und vor allem wer gilt dabei als Künstler? Das sind zwei wesentliche Fragen, die im Verlauf der Kunstgeschichte immer wieder neu evaluiert werden mussten, denn Kunstgeschichte ist nie ohne gesellschaftliche Entwicklungen zu sehen. Häufig wird die akademische Ausbildung als ein Indikator gewählt, um einen Künstler als solchen zu definieren.

In Europa galt jedoch bis mindestens 1919, dass sich meist nur Männer professionell künstlerisch ausbilden konnten, Frauen waren an den Kunstakademien ausgeschlossen und konnten sich höchstens im privaten Umfeld oder in sogenannten teuren Damenklassen ausbilden lassen. Ähnliche Verläufe sieht man international, wenn man sich viele Lebensläufe von schwarzen Künstlern, beispielsweise in den USA, ansieht, denen die Ausbildung aus rassistischen Motiven verwehrt blieb und die, bedingt durch ihre Lebenssituation, sich nie völlig der Kunst widmen konnten.

KünstlerInnen aus Minderheiten hatten lange kaum Chancen

Ein Beispiel ist Thornton Dial, dessen Werk im Augenblick neu bewertet wird und eine Art Neuverortung in der Kunstgeschichte erfährt. Es ist eine späte Einsicht, dass Künstler aus bestimmten Minderheiten viel zu lange innerhalb des Kunstsystems nicht anerkannt waren. Dazu gehören auch Menschen aus psychiatrischen Einrichtungen oder Künstler aus dem vielseitigen Genderspektrum.

Das Museum im Lagerhaus mit der Stiftung für schweizerische Naive Kunst Kunst und Art Brut in St. Gallen widmet sich genau diesen Grauzonen, oder viel mehr blinden Flecken, der Kunstgeschichte und verhandelt was alles Kunst sein kann und wie vielfältig die Ränder der Kunst sind. Das Museum widmet sich den Kunstrichtungen Art Brut, Outsider Art und Naiver Kunst und setzt einen Schwerpunkt auf Kunst von LaienkünstlerInnen ohne akademischer Kunstbildung, die häufig ausserhalb des professionalisierten Kunstsystems stehen.

Die Kuratorin Dorothee Haarer verweist auf die Definition des Museums «Der Begriff Outsider Art meint das Schaffen von Menschen, die der Art Brut nahestehen, doch von ihren Lebensumständen her in ein kulturelles Umfeld eingebunden sind. Gleichwohl kümmern sie sich weder um zeitgenössische künstlerische Strömungen, noch um irgendwelche technischen oder ästhetischen Konventionen. Im Grunde umschliesst Outsider Art den ganzen Bereich von Naiver Kunst bis Art Brut, zumal die eindeutige Zuordnung zur einen oder anderen Kategorie oft fragwürdig, manchmal gar unmöglich ist.»

Eine Folge des Corona-Stillstands: Museen haben Social Media entdeckt. Bild: Archiv

COVID-19: Museen zwischen Stillstand und Innovation

Ausstellungshäuser erfuhren während der Pandemie eine seltsame Entwicklung zwischen öffentlichem Stillstand und digitaler Beschleunigung. Eine Vielzahl an Ausstellungen musste vorschoben oder abgesagt werden und Häuser waren gezwungen neue Formate auszuprobieren. Eine Umfrage des Europäischen Netzwerks von Museums-Organisationen NEMO über den Einfluss der Covid-19-Pandemie auf ihren Betrieb, bei dem 650 europäische Museen Anfang April 2020 teilnahmen, ergab dass mehr als 60 Prozent der Museen seit der Schliessung ihr Onlineangebot erweitert und über 70 Prozent die sozialen Medien intensiver als zuvor nutzten.

Einige Ausstellungshäuser haben bei Initiativen wie #MuseumFromHome versucht Aktivitäten für ihre Besucher zu Hause anzubieten und Einblicke hinter die Kulissen zu gewähren. Andere Kultureinrichtungen starteten livestreams, digitale Vermittlungsreihen und Künstlergespräche. Natürlich bleibt die Frage, wie die Pandemie langfristig, die (Kunst)welt verändert.

Was gehört in den Kanon? Und was nicht?

COVID-19 hat Museen noch stärker dazu veranlasst, über ihre Relevanz nachzudenken und zu evaluieren welche Diskussionen gerade in der Gesellschaft wichtig sind. In der Öffentlichkeitsarbeit von Museen gilt seit langem der Anspruch inklusiv und divers zu sein – zumindest in der Theorie, denn in der Praxis sieht es zuweilen noch anders aus. 2020 scheint eine Art Katalysator für viele Diskussionen zu sein.

Im Augenblick verdeutlicht, die erneut geführte Rassismusdebatte, dass auch Fragen zur Rolle von Museen in der Erinnerungskultur und danach wer eigentlich in den Kanon aufgenommen wird gestellt werden müssen. Wie sieht moderne Museumsarbeit heute in unserer komplexen Zeit aus? Welche Geschichten wurden lange ausgeschlossen? Wie breit darf man einen Begriff wie Kunst öffnen? Wie sieht inklusives Arbeiten in der Praxis aus?

Wer älter als 80 ist, wird kaum noch wahrgenommen

Wie viele Museen war auch das Museum im Lagerhaus von den Schutzmassnahmen vor Corona betroffen und musste geplante Ausstellungen verschieben. Im Spätsommer sollen die beiden verschobenen Ausstellungen von Linda Naeff (1926-2014) und Maria Rolly (*1925) nachgeholt werden. Beide Künstlerinnen der Doppelausstellung sind Autodidaktinnen und wurden erst im fortgeschrittenen Alter künstlerisch tätig: Maria Rolly mit 40 Jahren, Linda Naeff sogar erst mit 61 Jahren.

In der Pressemitteilung zur Ausstellung heisst es:  «Maria Rolly befindet sich heute mit 94 Jahren in einem Alter, in dem die meisten Menschen in der Regel «unsichtbar» sind oder – im schlimmsten Fall – als Problem der Versorgung und Pflege wahrgenommen werden. Explizit Kreativität wird im Alter nicht erwartet. Daraus resultiert, dass diese übersehen und selten ernst genommen wird als aussagekräftige aktuelle künstlerische Äusserung. «Alte» Künstlerinnen gelten nicht mehr als «zeitgenössisch». Eine weitere Ausstellung, die aktuelle Fragen stellt und die hoffentlich ein paar Diskussionen anstossen kann.

Termine: «Kunst im Ausnahmezustand» läuft noch bis zum 5. Juli 2020. Das Museum im Internet: http://www.museumimlagerhaus.ch/ Unter allen eingesendeten Werken kann übrigens die „Publikums-Jury“ ihren Favoriten wählen. Alle BesucherInnen können bis zum Sonntag, 21. Juni 2020 direkt in der Ausstellung für ihr Lieblingswerk abstimmen. Das prämierte Werk wird anschliessend auf Postkarten gedruckt.

 

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