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von Inka Grabowsky, 09.06.2020

Allein im finstern Wald

Allein im finstern Wald
Ein blauer Wald, in dem sich Moritz Hossli verlieren könnte. | © Inka Grabowsky

Zwei Videoinstallationen im Kunstraum und im Tiefparterre in Kreuzlingen verändern den Blick der Besucher auf die Natur. Der Obwaldner Künstler Moritz Hossli widmet sich den Räumen Wald und Gletscher. 

Normalerweise ist das Souterrain des Kunstraums der Medienraum. Vereinfacht gesagt: Hier im Dunkeln laufen Filme, während oben im lichtdurchfluteten Saal Bilder an den Wänden hängen. Für die erste Ausstellung nach der Corona-Pause und mit Corona-Abstandsregeln jedoch hat sich Richard Tisserand zwei Video-Arbeiten von Moritz Hossli ausgesucht.

Der Film „Stereo Kinematica“ läuft oben im Kunstraum. „Das ist eine raumgreifende Arbeit“, sagt der Kurator, „deshalb ist sie ideal für diesen Saal geeignet.“ Im Bereich Film sei viel passiert. „Meine Aufgabe ist es, unter den Künstlern die wirklich guten zu finden. Ich beobachte Moritz Hossli schon länger. Er kennt sein Metier. Die Werke entstehen nicht zufällig. Sie sind straff, nie kommt Langeweile auf.“

«Meine Aufgabe ist es, unter den Künstlern die wirklich guten zu finden. Ich beobachte Moritz Hossli schon länger.»

Richard Tisserand, Kurator Kunstraum Kreuzlingen

Ganz im Gegenteil. Das 24-minütige Werk ist in 3-D gedreht. Jeder Besucher – bis zu zehn dürfen sich gleichzeitig im Saal aufhalten – bekommt eine jeweils neu gereinigte Shutter-Brille. Sie funktionieren anders als jene, die man aus dem Kino kennt. Sie polarisieren nicht, sondern erzeugen auf elektronischem Weg einen makellosen dreidimensionalen Effekt. Die Augen bekommen abwechselnd Bilder gezeigt, die von zwei parallel montierten Kameras aufgenommen wurden. Der Beamer gibt den Takt vor.

Bei der Vernissage vor zwei Jahren in Nidwalden hätten die Menschen überwiegend positiv reagiert, so Hossli. „Das ist ja schon eher im ländlichen Raum. Zudem sind Museumsbesucher häufiger auch ältere Menschen. Einige hatte noch nie einen 3-D-Film gesehen. Sie haben das zum ersten Mal erlebt. Es war spannend.“

Video: art-tv über Moritz Hossli

BesucherInnen können den Film mit 3D-Brillen sehen

Tatsächlich hat der Film einen faszinierenden Effekt, was nicht nur an der 3-D-Technik liegt. Hossli hat schlicht einen Spaziergang im Wald aufgenommen. Es ist Herbst. Gelegentlich fallen Blätter. Die Umgebung ist naturbelassen. Die verwendeten Steadycams sorgen für sanfte Bewegungen. Schnitte gibt es nicht, nur vier Schwarzblenden markieren einen Perspektivwechsel.

Spektakulär ist der Film, weil der Künstler in der Postproduktion das Farbspektrum auf Blau und Schwarz reduziert hat. „Die statische Situation wird durch die Farbwahl wie umgekrempelt. Das blau-schwarze Geäst wirkt wie transparent und dematerialisiert – fast wie ein Hologramm.“

Was auffällt: Der hypnotische Soundtrack

Eine Spielerei hat sich der Dreissigjährige zusätzlich erlaubt. Die ersten acht Minuten sind die beiden Kameras nicht im Abstand der menschlichen Augen montiert, sondern etwas breiter. Dadurch ragen die Äste nicht aus der Leinwand heraus, sondern gehen in die Tiefe. „Wer es wahrnimmt, empfindet es als besonderes Erlebnis. Es merkt aber nicht jeder.“

„Mir ist der Ton aufgefallen“, lobt Richard Tisserand. „Er trägt mich ins Bild hinein. Es ist wie eine sphärische Musik.“ Der Sound ist kürzlich gemeinsam mit Raphael Fluri aus Luzern entstanden. In der ersten Version von 2018 gab es noch eine andere, von Hossli produzierte Tonspur. „Die Zusammenarbeit war spannend und bereichernd“, so der Künstler.

„Eigentlich wollte ich ihm vollkommen freie Hand geben, aber schlussendlich habe ich doch die Richtung vorgegeben.“ Entstanden sind die hypnotischen Klänge aus Naturaufnahmen, die langsamer abgespielt werden, die mit Effekten versehen wurden oder die rückwärts ablaufen. „Es war ein langer Prozess, um die Ästhetik zu finden.“

Wärmestrahlenden Menschen im nicht mehr so ewigen Eis. Periglazial, eine Arbeit von Moritz Hossli. (Kunstraum Kreuzlingen, Juni 2020). Bild: Inka Grabowsky

Einen Blick auf den Klimawandel gibt es im Tiefparterre

„Periglazial“ heisst die viertelstündige Installation im Tiefparterre. Hier stellt Hossli auf zwei Wandflächen jeweils zwei Filme einander gegenüber. Sie beschreiben genau das, was der Titel verspricht: Erscheinungen, Zustände oder Prozesse in der Umgebung von Gletschern.

Der Künstler hat mit Hilfe einer Drohne sowohl den Aletsch- als auch den Rhône-Gletscher aufgenommen. Der eine ist naturbelassen, der andere mit Schutzvlies gegen übermässiges Abschmelzen abgedeckt. Unendliche Schattierungen von Grau wechseln sich in der grauen Umgebung des Kellerraums ab. Erneut versetzt ein Soundtrack von Raphael Fluri die Besucher in eine andere Welt.

Dieses Mal arbeitet Hossli zusätzlich mit menschlichen Protagonisten und folgt einer Dramaturgie. „Im Hintergrund der Arbeit steht das Gletschergelübde von 1678“, erklärt er. „Über Jahrhunderte haben die Menschen im Wallis die Natur gefürchtet – so sehr, dass sie gegenüber dem Papst gelobten, mit feierlichen Prozessionen für den Rückzug des Aletschgletschers zu beten. Inzwischen aber haben sie erkannt, dass sie vom Gletscher abhängen. Er sorgt für Wasser und für Tourismus. Nun beten sie, dass ihnen das Eis noch lange erhalten bleibt.“

Kurator Richard Tisserand mit dem Videokünstler Moritz Hossli. Bild: Inka Grabowsky

Früher beteten die Walliser für den Rückzug des Gletschers

Den beiden Gletschern stellt der junge Filmer deshalb Menschen gegenüber. Forscher, Gläubige, Touristen, Jäger, ein Landwirt sind mit einer Infrarot-Kamera aufgenommen. Sie sind damit im wahrsten Sinn des Wortes als Energieträger enttarnt. Sie strahlen Wärme ab, die ihre Umwelt beeinflusst.

Trotz Dramaturgie kommt es nicht darauf an, wann der Betrachter in das Erlebnis einsteigt. „Es ist keine Story im üblichen Sinn“, so Moritz Hossli, der in Luzern mit seiner Produktionsfirma auch Dokumentationen und Fiction dreht. „Diese Bilder sind lesbar im Ausstellungskontext. Im Kino würden sie nicht funktionieren, weil die Menschen dort eine andere Erwartungshaltung haben.“ Richard Tisserand ergänzt: „Man muss sie wie Gemälde betrachten, die man ja ebenfalls isoliert oder in ihrem Zusammenhang interpretieren kann.“

Warum die Kunst immer wieder auf die Natur blickt

Richard Tisserand eröffnet den Kulturfreunden im Kunstraum immer wieder einen neuen Blick auf die Natur. Nach „Empty Garden“ von Ursula Palla, den „Fruta Infinita“ von Olga Titus, dem „Catalogue d’Oiseaux“  von Elisabeth Strässle und dem „Snowdance“ von Melanie Manchot zeigt er nun Gletscher und Wald. Moritz Hossli sagt von sich selbst, für ihn sei Natur zentral: „Gerade mit der Landschaft befasse ich mich viel. Es geht mir um die Frage, wie sich Mensch und Landschaft gegenseitig beeinflussen. Die Umgebung löst etwas in mir aus.“

 

Die Ausstellung

Moritz Hossli.  Duette

5. Juni bis 12. Juli 2020 im Kunstraum Kreuzlingen www.kunstraum-kreuzlingen.ch

 

geöffnet Freitag 15 bis 20 Uhr, Samstag und Sonntag  13 bis 17 Uhr

 

Tanzperformance «Pas de deux» von Marie Alexis am Freitag, 19. Juni, um 19.30 Uhr

Gespräch mit Sibylle Omlin und Sommer-Grill zum Saisonabschluss, Sonntag 12. Juli, ab 11 Uhr.

 

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