von Kathrin Zellweger (1948-2019), 28.06.2013
Durch das Buch in die Welt

Seit 1990 rezensiert Christine Höhener jährlich Dutzende von Kinder- und Jugendmedien. In dieser ehrenamtlichen Arbeit verknüpft sie ihre eigene Liebe zum Buch mit der Hoffnung, dass sie möglichst viele Kinder zum Lesen verführen kann. Das freut auch das Amt für Volksschule.
KATHRIN ZELLWEGER
„Literatur für Kinder soll zweckfrei sein, bereichernd ist sie ohnehin.“ Das sagt Christine Höhener, die seit über 20 Jahren Kinder- und Jugendmedien (Bücher, Hör-CDs, Comics etc.) rezensiert. Sie stellt sich damit klar gegen die Erwartung, dass Medien für Kinder und Jugendliche nebst Unterhaltung auch einen erzieherischen Auftrag haben. Wir erinnern uns an die heile Welt in Bilderbüchern, an die Märchensammlungen mit ihren klaren Mustern von Gut und Böse, an die Klassiker der Jugendliteratur „Rote Zora“ und „Schwarze Brüder“, in denen immer auch der erhobene Zeigefinger spürbar war. Wenn die Weinfelderin von Zweckfreiheit redet, bricht sie über jene damals gängige Auffassung nicht den Stab; sie findet (nach)erziehende Inhalte jedoch nicht mehr zeitgerecht. „Es gilt, Kindern über Inhalte Gedankenräume zu öffnen, in denen sie sich orientieren können. Das hat mit Identifikation und Optionalität zu tun. Eine Option kann die Rebellion sein, die, solange sie im Rahmen des Gesetzlichen abläuft, als Auseinandersetzung mit dem Leben verstanden werden darf.“Junge Autoren und Illustratorinnen, die kühn-freche Geschichten vorlegen, die zum Überlegen anregen, sind daher ganz nach ihrem Geschmack.
Es geht auch um die Kompetenz
Woher weiss eine Rezensentin, die 58 Jahre alt ist, welche Bücher für Jugendliche und Kinder adäquat sind? „Ich stehe dazu: Ich bin Hobby-Rezensentin, und meine Rezensionen sind meine persönliche Beurteilung. Ich mache mir meine Aufgabe nicht leicht. Ich lese oder höre jedes Buch vom ersten bis zum letzten Satz. Ich schaue, wie der Zugriff zu einem Thema ist; ich beachte die Illustration, die Aufmachung und natürlich die Sprache. Bevor ich eine schriftliche Bewertung abgebe, überlege ich mir, welchen anderen Standpunkt als den meinen man mit guten Gründen auch einnehmen könnte. Die Verantwortung für meine Rezension liegt jedoch bei mir.“
Gefragt nach der Zeit für diese ehrenamtliche Arbeit, schmunzelt sie. „Wie soll ich allein die Stunden erfassen, in denen ich mit einem Buch oder einer Hör-CD schwanger gehe, bevor ich mich an den Computer setze?“ Es ist ihre persönliche Freude und die Lust am Buch, die Christine Höhener hoffen lässt, dass sie Kinder und Jugendliche zum Lesen verführen kann. Es gehe nicht nur um die Lesefertigkeit oder eine sinnvolle Freizeitgestaltung; es gehe auch um eine Kompetenz, die den Zugang zu Bildung erst ermögliche. Also doch nicht ganz zweckfrei? „Wenn die Absicht lautet: Lesen gleich Sich-Öffnen, dann lasse ich den Einwand gelten. Aber nur dann.“
Dem Volksschulamt mehr als recht
Jedes Frühjahr und jeden Herbst wird der Buchmarkt mit Neuerscheinungen überschwemmt. Wer sich eine Übersicht verschaffen will, was neu aufgelegt worden ist, braucht viel Zeit. Stunden, welche die Personen, die in Schulhäusern die Bibliotheken betreuen und Ankäufe tätigen, kaum aufbringen können. Dem Amt für Volksschule war es somit mehr als recht, als sich in den Siebzigerjahren nebenamtliche Rezensentinnen zusammenfanden. Gut 20 Personen leisten einen Dienst, der trotz elektronischer Suchmaschinen und Newslettern auch von Lehrkräften immer noch geschätzt wird. Zweimal jährlich erscheint eine Broschüre mit etwa 300 Bewertungen von a (sehr empfohlen) bis d (nicht empfohlen), einer kurzen inhaltlichen Zusammenfassung, thematischen Stichworten und einem Hinweis zum Lesealter. Die Druckkosten übernimmt das Departement für Erziehung und Kultur. Vor einigen Jahren wollte das DEK die Unterstützung aufkündigen. Doch es kam anders: Die PISA-Studie hatte gezeigt, dass Lesen als Kulturtechnik bei den Kindern zu wünschen übrig lässt. Die geplante Sparübung fiel sang- und klanglos unter den Tisch.
Erfahrung nützlich
Früher waren die Verlage grosszügig und schickten ihre Rezensionsexemplare frei Haus. Heute müssen sie angefordert werden. Die Arbeitsgruppe hat sich zur Aufgabe gemacht, dass von den Bilderbüchern fast alle rezensiert werden. Bei der Literatur für die Unterstufe gibt man dem Einzelwerk gegenüber den Reihen den Vorzug. Für die Oberstufe gibt es das riesige Feld der Fantasy- und Science-Fiction-Romane, „wo wir eher zurückhaltend sind und lieber auf Bücher setzen, die sich mit der Entwicklung der Jugendlichen befassen. Daneben interessieren uns die Romane mit geschichtlichem Hintergrund.“ Ihre langjährige Erfahrung hat Christine Höhener gezeigt, bei welchen Verlagen von Neuerscheinungen auf einem guten Niveau ausgehen kann. Das sind Hanser Kinderbuch und der Carlsen Verlag, bei den Bilderbüchern der Atlantis Verlag sowie die noch weniger bekannten Verlage Tulipan und Aracari.
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www.jugendliteratur-aktuell.ch
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Christine Höhener
Christine Höhener, 58, war Primarlehrerin. Seit 15 Jahren arbeitet sie als Logopädin mit eigener Praxis; sie hat sich auf Therapie von Kindern ab drei Jahren spezialisiert. Diese Kinder werden ihr aufgrund einer kinderärztlichen Beobachtung und nach Abklärung durch eine kantonale Schulberatung zugewiesen. – Ihre Hobbies sind nebst Rezensionen von Kinder- und Jugendmedien (v.a. für thurgauische Schulbibliotheken) die italienische und chinesische Sprache und alles, was zu Kunst und Kultur gehört. Sie lebt mit ihrem Mann Hans Jörg Höhener in Weinfelden. (kze)

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