von Inka Grabowsky, 10.06.2024
Ein Spaziergang durch die Weltliteratur
Charles Linsmayer stellte im Literaturhaus Thurgau sein Lesebuch «19/21 Synchron global» vor. Es präsentiert 135 Schriftsteller, die in 45 Ländern zwischen dem 19. und 21. Jahrhundert gearbeitet haben, exemplarisch anhand eines ihrer Werke. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
«Es ist eine Literaturschule», sagt der Literaturhistoriker, Herausgeber und Autor Charles Linsmayer. «Vielleicht kauft der eine oder andere Leser im Anschluss ein Buch eines der Portraitierten.» Die 135 Autoren und Autorinnen, die in 28 unterschiedlichen Sprachen publiziert haben, werden in «19/21 Synchron global» jeweils durch eines ihrer Werke repräsentiert – Gedichte, Erzählungen, Kurzgeschichten oder Auszüge aus Romanen.
Die Texte sind thematisch, nicht chronologisch geordnet. Von «Schreiben ist etwas Köstliches» über «Zwischen Daseinsbejahung und Lebensekel» bis zu «Einbruch des Irrationalen» reicht die zwanzigteilige Palette. Eine Kurz-Biografie gibt jeweils Aufschluss über das Leben des oder der Kulturschaffenden. «Da geht eine Welt auf», sagt Lorenz Zubler, der Stiftungsratspräsident der Thurgauischen Bodman-Stiftung bei der Lesung im Literaturhaus Thurgau.
Lob für Lewinsky
Nach dem vor zwei Jahren erschienenen Schweizer Lesebuch «20/21 Synchron» habe er zeigen wollen, in welchen weiten Umfeld die Schweizer Literatur stehe, erklärt Linsmayer. «Ich wollte aus dem Korsett herauskommen und zeigen, dass ich nicht nur Schweizer Literatur lese. Und die Schweizer Autoren vertragen es, mit Kollegen weltweit verglichen zu werden.»
Tatsächlich haben es dieses Mal nur fünf Schweizer in die Anthologie geschafft, darunter Charles Lewinsky. «Er war der Einzige, der seine Biografie gegenlesen konnte», sagt Linsmayer lächelnd. Beide leben in unmittelbarer Nachbarschaft in Zürich. Lewinskys Kurzgeschichte «Liebe ist nicht verhandelbar» ist im Kapitel «Ehepaare» vertreten. «Er hat dafür einen Auszug aus seinem Roman ‹Melnitz› umgestaltet – ein absolut brillantes Buch, das man unbedingt lesen sollte.»
Video: Szenen von der Lesung
Literarische Begegnungen auf Augenhöhe
Die Autorin Dana Grigorcea übernahm am Abend im Bodman-Haus die Aufgabe der Moderatorin. In der Schweizer Anthologie «Synchron 19/20», die 2022 erschien, war sie Teil der Portraitierten. «Spielt es eine Rolle, ob die Autoren vorne auf dem Buchdeckel oder auf der Rückseite abgebildet sind? Ich frag ja nur, weil ich beim ersten Band hinten zu sehen bin», kokettiert sie.
Linsmayer kann sie beruhigen: «Alle Autoren sollen sich auf Augenhöhe begegnen. Sie treten in einen Dialog. Deshalb auch der Titel ‹Synchron›, obwohl einige längst tot sind und andere noch leben. Und deshalb sind sie in den Zeichnungen alle im besten Alter dargestellt.»
Liebevolle Karikaturen
Der Zeichner Claudio Fedrigo hat die Portraits der 135 Schriftsteller und Schriftstellerinnen mit einem Augenzwinkern gestaltet. «Er ist ein grosser Leser und kennt die Werke der Portraitierten. Deshalb hat er versucht sie so darzustellen, wie man sie kennt.»
Albert Camus in Existenzialistenschwarz hat eine selbstgedrehte Zigarette im Mund; Ingeborg Bachmann streicht sich durch das Haar; Alice Munroe trägt Fuchskrallen um den Hals, weil sie auf einer Silberfuchsfarm aufgewachsen ist; Thomas Mann steht auf dem Titelbild im Zentrum des «Who-is-Who» der Weltliteratur der vergangenen beiden Jahrhunderte.
Persönliche Leseempfehlungen
Es fällt auf, dass viele Nobelpreisträger und -trägerinnen im Lesebuch vertreten sind. «Ich habe nicht einfach alle Preisträger versammelt», erklärt Linsmayer. «Ich bin aber froh, dass das Nobelpreis-Komitee zu gleichen Einschätzungen gekommen ist wie ich.» Subjektiv konnte der Herausgeber entscheiden, welche Werke der Weltliteratur er ins Rahmenlicht zieht.
Allerdings war auch er nicht frei von Sachzwängen. «Für einige Texte, die ich mir gewünscht hatte, habe ich die Rechte nicht bekommen. Eine US-Agentur hat über ein halbes Jahr gebraucht, um mir überhaupt zu antworten. Und dann musste sie die Nachfahren der Schriftsteller suchen, um ihre Zustimmung zu bekommen. Ein japanischer Verlag hat mich aufgefordert, den angefragten Text auf Japanisch vorzulegen, was ich nicht konnte. Es war ein Kampf um jeden Text.»
Linsmayer war hochmotiviert bei dieser bürokratischen Auseinandersetzung, nicht nur aus ästhetischen Gründen: «Ich habe ein Jahr lang an den Biografien gearbeitet. Anfänglich hatte ich vielleicht fünf Seiten pro Person, und die musste ich auf eine Seite kürzen. Erst später habe ich die literarischen Texte dazu gesucht.» 17 Biografien blieben ungenutzt, weil die Rechte nicht zu haben waren.
Lyrik virtuos vorgetragen
Bei der Buchpräsentation übernahm Charles Linsmayer nur die Lesung des von ihm verfassten Biografien. Die literarischen Texte las der Schauspieler, Regisseur und Dichter Robert Hunger-Bühler vor. «Ich gehöre zu den Schauspielern, die Tag und Nacht lesen», sagt er. «Manchmal sehe ich ein Gedicht und spreche es unwillkürlich laut. Aber es gibt Texte, die eignen sich nicht für Lautstärke.»
Werke von Peter Handke und Adalbert Stifter gehörten dazu. Beide sind nicht in «19/21 Synchron global» vertreten, so las Hunger-Bühler stattdessen virtuos Lyrik unter anderem von Ingeborg Bachmann und Paul Celan. «Rezitation von Gedichten ist eine Kunst, die heute zu wenig gepflegt wird», sagt Linsmayer. «Aber es gibt Hoffnung», entgegnet Hunger-Bühler: «Derzeit sieht man junge Leute beispielsweise scharenweise Kafka lesen. Der Hype wegen des hundertsten Todestags ist also zu etwas gut.»
Das Buch
«19/21 Synchron global» herausgegeben von Charles Linsmayer mit Zeichnungen von Claudio Fredrigo ist im Th. Gut-Verlag erschienen und kostet 39 Franken. Es hat 656 Seiten.
Von Inka Grabowsky
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