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von János Stefan Buchwardt, 20.08.2021

Eintauchen ins Kunstwerk

Eintauchen ins Kunstwerk
Mit Isabelle Krieg lässt sich in Zusammenhänge eintauchen, die sich zwischen Industrieraum und Wasser, Horizont, Flucht- und Sehnsuchtsort spinnen lassen. | © Kunsthalle Arbon

Mit der Installation «Wellengang» von Isabelle Krieg lässt sich in der Kunsthalle Arbon bestens überraschen und einnehmen. Wie weit man gehen möchte, um Heiterem und/oder Kritischem zu begegnen, bleibt jedem selbst überlassen.

Die Kuratorin hätte noch überquellender auftreten dürfen. Auch wenn Deborah Keller ihre Begeisterung über das aktuell Inszenierte professionell im Zaum zu halten wusste: Die übergrosse Freude war ihr anzumerken. Mit der neuen, von ihr mitverantworteten Arbeit in der Arboner Kunsthalle – gezeigt wird eine raumgreifende Installation aus Isabelle Kriegs Händen – beweist das peripher gelegene Haus, wie sehr sein Prinzip von Abwechslung und Vielfalt aufgehen kann. Die bilderreiche künstlerische Position betört. Und so dürfte es ein Leichtes sein, das Publikum nach Arbon zu locken.

„Mit der raumgreifenden Installation aus Isabelle Kriegs Händen beweist die peripher gelegene Kunsthalle Arbon, wie sehr ihr Prinzip von Abwechslung und Vielfalt aufgehen kann.“

János Stefan Buchwardt

Die in Kreuzlingen lebende und arbeitende Künstlerin Isabelle Krieg richtet mit grosser Geste an. Sie beeindruckt mit einer imposanten textilen «Landschaft». Der Blick auf ihr geradezu bestrickendes Unterfangen fällt passenderweise in den Spätsommer. Eine, laut Pressemitteilung, interaktive Gesamteinrichtung, die sie nach einer Reihe von retrospektiv angelegten Einzelausstellungen präsentiert.

Was aus Altkleiderlappen entstanden sei, erinnere im Ausstellungsraum an die effektvolle Sicht auf die Weite eines grossen Gewässers, an Veränderungen der Wasseroberfläche durch Wetterphänomene und an «hautnahe» Erfahrungen wie das Schwimmen in Seen und Weltmeeren.

 

Betritt man die Kunsthalle Arbon, wird man zunächst von etwa fünfzig von der Decke hängenden Nylonstrumpf-Seilen empfangen. | Bild: zVg

Aufruhr der Elemente

Vor allen Dingen können Kunstbegeisterte und solche, die es noch werden wollen, die Installation anfassen, betätigen und begehen. Anfängliche Ungläubigkeit bei den Gästen der Vernissage weicht entdeckungsfreudiger Erregung über die mögliche Einflussnahme.

Beim Betreten der Halle empfängt ein Wald aus an die fünfzig von der Decke hängenden Nylonstrumpf-Seilen. Jeder Zug an einem davon erzeugt eine Wellenspitze. Der muntere Strippenzieher kann gar ein ganzes Unwetter heraufbeschwören. Immer wieder überrascht es, wo was mit wie vielen Bahnen einzeln oder gleichzeitig passiert.

Die Woge an sich wird thematisiert und dabei das Gefühl ausgelöst, sie käme auf einen zugerollt. Wer den Spass bei ernsterem Hinschauen zum Zeitengang werden lässt, vor dessen Füsse werden Themenbereiche wie etwa Flutwellen oder aktuelle Überflutungen gespült. Die Kraft der Naturgewalten blitzt auf, die Gefahren, die mit dem Element Wasser verbunden sind.

Auf dem Saalblatt formuliert Deborah Keller die gekonnte Verbindung zwischen visueller Schönheit des heiter Wirkenden mit der Reflexion über die Herausforderungen unserer Zeit aus. Mittels dieser performativen Interaktion spiegele sich das Wasser als Freund und Feind des Menschen.

 

Anfassen, Betätigen und Begehen ausdrücklich erlaubt. | Bild: János Stefan Buchwardt

 

Hohen Schrittes spaziert Jung und Alt durch das Kunstwerk. | Bild: János Stefan Buchwardt

Heidenarbeit für die Kunst

Von den Dimensionen her ist die verwobene Installation etwas vom Grössten, aber auch Ausgeklügeltsten, was Isabelle Krieg bisher auf die Beine gestellt hat. Über ein ausgetüfteltes Faden- oder Verdrahtungssystem, das sich über Hunderte von Ösen erstreckt, die eigens an die Decke geschweisst wurden, ist das Wasser-Mobile eine Art fingerfertiger Metaphernreigen.

Gut zwei Wochen dauerte es, die von Anmut und Gunst durchtränkte Einrichtung zu realisieren, obwohl vieles, konkret die Stoffbahnen und Stränge, schon vorbereitet war. Befestigen, tackern, zuvor eine Reihenfolge festlegen, um eine tiefenwirksame Abstufung der Farben zu erreichen: Das alles wurde mit rund zehn Leuten, jeweils in Zweier- oder Dreierteams und ebenso in Nachtschichten bewerkstelligt.

 

Was aus Altkleiderlappen entstanden ist, erinnert im Ausstellungsraum an die Sicht auf ein grosses Gewässer. | Bild: János Stefan Buchwardt

 

Künstlerin Isabelle Krieg (links) und Kuratorin Deborah Keller erweisen sich als rundum erfolgreiches Gespann. | Bild: János Stefan Buchwardt

Stoffverwertung und Körpereinsatz

Die mannigfaltigen Bezüge, die sich herstellen lassen, verblüffen und überzeugen in einem Atemzug. Deborah Keller schüttet immer wieder neue feinsinnige Motivations- und Verbindungslinien aus ihrem grosszügigen wie engmaschigen Fischerinnennetz. So habe etwa die Nachhaltigkeitsfrage eine Rolle gespielt, um so wenig Abfall wie möglich zu produzieren. Die Gebrauchtkleider sind im Bekanntenkreis zusammengesucht. In der Tat sollen, sobald die Installation aufgelöst wird, die Alttextilien auf noch zu bestimmende Art recycelt werden. Gegebenenfalls könne Krieg auf ein vorhandenes Arsenal an Stoffballen für Vorhaben ähnlicher Art zurückgreifen.

„Die mannigfaltigen Bezüge, die sich herstellen lassen, verblüffen und überzeugen in einem Atemzug.“

János Stefan Buchwardt

Augenfälliges Potenzial, das sich durch ihre Arbeit zieht, sei die jeweilige Bezugnahme zur eingenommenen Perspektive. Sobald man zuvorderst die weissen, Gischtschaum und -blasen symbolisierenden Streifen überschreitet, gerät man in der gegebenen Ausstellungsrealität mehr oder weniger mühsam zwischen die tieferen Gewässerstreifen.

Schliesslich kann man am Ende der Halle einen gemütlichen Unterwasserspaziergang antreten. Der Übergang von höher gespannten Bahnen zum reinen Unterwasser-Erlebnis ist dabei die schwierigste Etappe. Entweder man setzt zu zu hohen Schritten an oder versucht, sich in noch seichter Tiefe gebückt unter den Bahnen vorwärtszubewegen. Hat man dann die Stoffdecke über sich, evoziert das etwas Schützendes. Der provisorische Charakter erinnere aber gleichzeitig an medial vermittelte Bilder von Flüchtlingscamps, führt Keller aus.

 

Spielerisch auf- und abtauchen. Das ist selbstverständlich ungemein einladend für das Kind respektive das kindliche Gemüt im Erwachsenen. | Bild: János Stefan Buchwardt

Sprossen der Interpretation

Ob nun simulierte Unter- oder Über-Wasser-Positionen eingenommen werden, das spielerische Auf- und Abtauchen lässt Farbigkeiten wie auch Ansätze von Ermüdungserscheinungen auftauchen. Wer sie und sich weiter auszudehnen bereit war, mochte der assoziativen Sturzflut der Ansprache zur Vernissage noch eine Leitersprosse höher folgen. In der Wendung hin zum Verhältnis zwischen Wasser und Stoff respektive Kleid weist Deborah Keller grundsätzlich auf die gewaltsame Geste hin, die die in Fetzen gerissenen Kleidungsstücke heraufbeschwören. Erinnerungen drängten sich auf, etwa an im Mittelmeer gesunkene Flüchtlingsboote, an in Uferzonen angeschwemmte Kleiderreste.

Nicht zu vergessen der Zusammenhang, dass es für die Textilproduktion Unmengen von Wasser brauche, um den benötigten Rohstoff anzubauen. Andererseits, so Keller, gefährde das bei der Herstellung von Textilien abgeleitete, verunreinigte Wasser, besonders in den bevölkerungsreichen asiatischen Zentren, die Verfügbarkeit von sauberem Trinkwasser. Zu guter Letzt trägt die Verschiffung der unter prekären Bedingungen massenhaft hergestellten Kleidungsstücke in den Westen ebenfalls zur fortschreitenden Gewässerverschmutzung bei.

Banalität und Scharfsinn

Das Wohltuende und Befreiende ist, dass sich die durchaus berechtigten und clever verpackten Interpretationsschlaufen niemals aufdrängen. Die mögliche Weite der Auslegung aufzurollen, indem die faszinierende Spannweite der Künstlerin ausgedeutet wird, ist zweckdienliche Leistung und Verdienst. Weit über den Alltag und ersten Eindruck hinaus zu philosophieren, scheint der Künstlerin persönliche Pflicht zu sein. Desaströses verfängt sich bei ihr in Feinsinn, Gesamtgesellschaftliches buchstabiert sie auf den individuellen Wunsch nach Lebenslust und Berührtwerden hinunter.

 

Erinnerungen können sich aufdrängen, etwa an am Mittelmeer angeschwemmte Kleiderreste von ertrunkenen Flüchtlingen. | Bild:  János Stefan Buchwardt

Mit Gefühl

Ohne den Besucherinnen und Besuchern die Lust an der angebotenen Greifbarkeit rauben zu wollen, weist Isabelle Krieg an der Vernissage berechtigterweise darauf hin, die bisweilen ungestüme Unbändigkeit an den Ziehbändern doch ein wenig zu drosseln. Einen gewissen Respekt vor dem Betätigen ihrer magischen, weil kaum wahrnehmbaren Maschinerie einzufordern, ist allzu gut nachvollziehbar. Handkehrum betont sie, dass selbstverständlich auch einmal etwas kaputtgehen dürfe und geflickt werden müsse. «Es ist wie im Leben», fügt sie schmunzelnd an.

„Das Wohltuende und Befreiende ist, dass sich die durchaus berechtigten und clever verpackten Interpretationsschlaufen niemals aufdrängen.“

János Stefan Buchwardt

Trockenschwimmen und trotzdem nass

Dieses überheisse Eröffnungswochenende wird eine starke Spur in Isabelle Kriegs Künstlerinnenbiografie hinterlassen. «Es war ein existenzielles Erlebnis, das hier zu machen», sagt die 1971 in Fribourg geborene, toughe Frau, die es schon immer zur Kunst gezogen hat. Längst hat sie sich über die Landesgrenzen hinaus mittels Performance, Skulptur, Zeichnung und Fotografie einen Namen gemacht. Nach Stationen wie Berlin, Dresden und Konstanz lebt sie nun seit wenigen Jahren in Kreuzlingen. Wer weiss, welche Inspirationen sie noch über den Blick auf den Bodensee, den ihr Atelier ihr gewährt, erfährt.

Dass handkehrum die Kunsthalle Arbon ihren Ausstellungsraum unweit der eigentlichen «Badi» am See so zeitgenössisch überzeugend und sinnenhaft experimentell bespielt, ist eine lohnende und unterstützenswerte Spezialität der Region. Die Kunsthalle beherrscht das originäre Konzept und löst es durchdacht, vital und virtuos ein.

„Ob hier kurze oder weite Strecken durchwatet, welche Verstrickungen aufgefischt werden, welches Strandgut künstlerisch-philosophischer Höhen- und Tiefenlagen einem auch in den Sinn kommt, man wird in jedem Fall reichlich und lustvoll beschenkt.“

János Stefan Buchwardt

Im Oberlichtsaal tropfte der Schweiss von den Stirnen der Gästeschar. Wer in diese an ein grosses abstraktes Gemälde erinnernde Installation wie intensiv einzutauchen bereit ist, bleibt jedem selbst überlassen. Ob hier kurze oder weite Strecken durchwatet, welche Verstrickungen aufgefischt werden, welches Strandgut künstlerisch-philosophischer Höhen- und Tiefenlagen einem auch in den Sinn kommt, man wird in jedem Fall reichlich und lustvoll beschenkt.

 

Ein gutes Zeichen, dass die klimatischen Bedingungen dem grosses Interesse an der Vernissage kaum etwas anhaben konnten. | Bild: János Stefan Buchwardt

 

Isabelle Krieg – Wellengang

15. August – 19. September 2021 in der Kunsthalle Arbon. Weitere Informationen: https://kunsthallearbon.ch

 

«Wenn die Welt klar wäre, gäbe es keine Kunst» (Albert Camus)

Samstag, 11. September, 16 Uhr

Ein Gespräch über Kunst und Leben zwischen Isabelle Krieg, dem Publikum und PD Dr. Rico Gutschmidt, Fachbereich Philosophie, Universität Konstanz

 

Öffentliche Führungen

Samstag, 28. August, und Sonntag, 19. September, jeweils 16 Uhr

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