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12.06.2019

«Es geht nicht um Frauenquoten»

«Es geht nicht um Frauenquoten»
Hatte genug von der Benachteiligung von Frauen in üblichen Kulturförderprogrammen - und schuf sich Michèle Minelli ihr eigenes Literaturförderprogramm. Wie das funktioniert, beschreibt sie in ihrem Gastbeitrag für thurgaukultur.ch | © Inka Grabowsky

Jahrelang ärgerte sich die Schriftstellerin Michèle Minelli, dass Frauen in der Kultur benachteiligt werden. Dann gründete sie ihr eigenes Literaturförderprogramm - die «Franz-Edelmaier-Residenz für Literatur und Menschenrechte». Mit diesem Programm zeigt sie, wie Kulturförderung frauenfreundlich werden kann, ohne Männer auszuschliessen.

Ein Gastbeitrag von Michèle Minelli

Als mich mein Vater 2014 fragte, ob ich nicht Lust hätte, für die von ihm geführte Schweizerische Gesellschaft für die Europäische Menschenrechtskonvention (SGEMKO) eine Schriftstellerresidenz in Meran, bestehend aus zwei Wohnungen, aufzubauen, dachte ich zuerst: Oh je, wenn ich das tue, geht das Kasperletheater von „die Tochter von Dignitas-Gründer“ wieder los. Seit Beginn meiner schriftstellerischen Tätigkeit lebe ich damit, dass mich Journalisten (es sind immer Männer) anrufen, die vorgeben, einen Bericht über mich oder meine Bücher machen zu wollen, wenn ich ihnen a) ein Interview mit meinem Vater oder b) Insiderwissen über Dignitas vermittle. Kurzer Hinweis für hier mitlesende Journalisten: Dignitas steht im Telefonbuch, und Insiderwissen holt man sich am besten bei Insidern.

Egal wie sehr mich die Schubladisierung bisher störte und sicher auch behinderte, ich brauchte nicht lange, um Ja zu sagen. Die Möglichkeit, eine Residenz für Literaturschaffende aufzubauen, denn so wollte ich das Projekt verstanden wissen, bot mir die Gelegenheit, eine vorherrschende Benachteiligung auszugleichen.

Ausschluss durch frauenfeindliche Bestimmungen

Zahlreiche Schriftstellerinnen sind von literarischen Förderprogrammen ausgeschlossen, weil sie sich nicht für eine Dauer von drei und nicht selten auch sechs Monaten frei machen können. Auch mir war es einst unmöglich, ein längeres Aufenthaltsstipendium anzunehmen, wollte ich meinen Sohn nicht ein halbes Jahr alleine lassen. Eine vorbestimmte Aufenthaltsdauer, nicht selten auch eine vorbestimmte Aufenthaltszeit (zum Beispiel drei Sommermonate) verunmöglichen vielen Frauen die Bewerbung. Damit werden sie von einem wichtigen Förderinstrument ausgeschlossen, ohne dass diese Diskriminierung überhaupt sichtbar ist.

Als es darum ging, für die SGEMKO das Projekt „Franz-Edelmaier-Residenz für Literatur und Menschenrechte“ in Meran zu entwerfen, waren für mich folgende Punkte von Beginn weg elementar:
1.     Die Aufenthaltsdauer wird durch die Stipendiatin / den Stipendiaten selbst bestimmt, sie dauert wahlweise 2 bis 12 Wochen.
2.     Die Aufenthaltszeit darf als Wunsch angebracht werden, diesem wird nach Möglichkeit entsprochen.

Dazu kamen zwei weitere wichtige Punkte, die die SGEMKO als Menschenrechtsgesellschaft auszeichnen: Die Wohnungen müssen barrierefrei eingerichtet sein, und die Themen, an denen während des Aufenthaltsstipendiums gearbeitet werden, sollen mit Menschenrechten zu tun haben.

Stichwort: Ermöglichung

Seit Inbetriebnahme der beiden Wohnungen im Winter 2015 hat sich eine augenfällige Mehrheit von weiblichen Literaturschaffenden beworben. Ihnen kommen die Bestimmungen, die einem Frauenleben geneigt sind, entgegen, ohne dass diese Bestimmungen Männer ausschliessen würden. Unsere Statistik zeigt einen deutlich höheren Frauenanteil:

2015-2016      11 Frauen, 11 Männer
2017                11 Frauen, 3 Männer
2018                8 Frauen, 5 Männer
2019                17 Frauen, 4 Männer
total                47 Frauen, 23 Männer

Im Laufe der Jahre hat sich zudem ein weiteres Novum etabliert und als durchaus lebbar erwiesen: Die Möglichkeit, ein gewährtes Aufenthaltsstipendium zu splitten. Auch in diesem Jahr hat eine Schriftstellerin davon Gebrauch gemacht: Nachdem ihr Mann unerwartet erkrankt war und hospitalisiert werden musste, reiste sie zurück nach Hause im sicheren Wissen, dass sie den Aufenthalt nachholen kann.

Frauenstreik oder Kampf für eine Gesellschaft der Ermöglichung

Wenn am 14. Juni die Frauen unter anderem dafür streiken, dass Preisgelder, Stipendien und andere Kulturfördermittel gerecht verteilt werden, so hat das nicht zum Ziel, Frauenquoten einzuführen, sondern es ist ein Kampf um die Begrenzung männlicher Bevorzugung. Alle Kulturschaffenden an Schaltstellen sind gefordert sich zu fragen: Was mache ich, damit alle Geschlechter gleichermassen gefördert werden können? Ist das Angebot, das ich vertrete, auch für Kunstschaffende mit Kindern eine Option? Und wie liesse sich die Situation durch meinen Einsatz konkret verbessern?

Nach vier Jahren Tätigkeit als Projekt-Koordinatorin der Franz-Edelmaier-Residenz für Literatur und Menschenrechte in Meran kann ich sagen: Ein kleines bisschen persönliche Flexibilität ermöglicht eine grosse kulturpolitische Veränderung. Indem ich nicht auf fixen Aufenthaltsdauern und -zeiten bestehe, entsteht mir ein minimaler Mehraufwand an Koordinationsarbeit. Der Gewinn aber überragt diesen um Längen. Und er befriedigt mich als weibliche Literaturschaffende auch persönlich. Weil ich weiss, dass ich heute anderen das ermögliche, was ich selber einst gebraucht hätte. Dafür nehme ich dann auch in Kauf, dass wieder einmal einer anruft und sich nach meinem Vater erkundigt. Dem geht’s nämlich gut. Genau wie mir. Danke der Nachfrage.

Die Franz-Edelmaier-Residenz

Wer war Franz Edelmaier? Franz Edelmaier (1931-2012), ein dem Tiroler Kloster Stams zugehöriger Zisterzienserpater (»Pater Benedikt«), war über 50 Jahre Pfarrer in Meran. Er vermachte seinen Nachlass der Schweizerischen Gesellschaft für die Europäische Menschenrechtskonvention (SGEMKO). Er selbst hat in diesen Wohnungen gelebt und gewirkt und wünschte sich ein fortbestehenden Bezug zur Arbeit für Menschenrechte.

 

An wen richtet sich das Förderprogramm? Für das Stipendienprogramm kommen Literaturschaffende aller Nationalitäten infrage. Ausdruck der gewünschten Internationalität ist auch die Namensgebung der Wohnungen, THOREAU, nach Henry David Thoreau (geboren 1817 in Massachusetts, gestorben 1862 ebenda; »Über die Pflicht zum Ungehorsam gegenüber dem Staat« u.a.) und KALÉKO, nach Mascha Kaléko (geboren 1907 in Chrzanów, gestorben 1975 in Zürich; »Hat alles seine zwei Schattenseiten« u.a.). Fotos zu den beiden Wohnungen gibt es auf der Internetseite des Programms: Hier und hier. Der Austausch mit Literaturkreisen vor Ort wird angestrebt und soll in den kommenden Jahren etabliert werden. Das Aufenthaltsstipendium beschränkt sich auf die Zurverfügungstellung der Wohnung. 

 

Wo kann man sich bewerben? Detaillierte Informationen rund um die Bewerbungsmodalitäten finden sich auf der Internetseite des Programms. Interessierte füllen das »Formular für Gesuchstellende« aus und senden es zusammen mit einer Textprobe an die Koordinatorin Michèle Minelli (Iselisberg 14, 8524 Uesslingen). Es werden nur schriftlich eingereichte Gesuche barbeitet. Ein Board von Fachkundigen entscheidet laut Internetseite über Gutheissung oder Ablehnung des Gesuchs.

 

Mehr zur schriftstellerischen Arbeit von Michèle Minelli gibt es hier, hier und hier

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