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von Anabel Roque Rodríguez, 11.06.2020

Expedition in die Dunkelheit

Expedition in die Dunkelheit
Mobiles Arbeiten: Andri Stadler war mit einem fahrenden Atelier 2019 in der Landschaft auf dem Col de la Bonette unterwegs. | © Andri Stadler/1_In situ, Col de la Bonette (F) 2019

Wieviel kann man als Fotograf reduzieren, und dem Betrachter gleichzeitig dennoch die Ahnung lassen, um was es sich bei dem Motiv handelt? Andri Stadler lotet diese Grenzen aus. Dafür erhält er in diesem Jahr einen mit 25'000 Franken dotierten Förderbeitrag des Kantons Thurgau.

Fotografie galt in den Anfängen als ein Medium, das «nur» Realität abbildet. Schon längst gehen Fotografen aber weiter und zeigen was das Medium noch so kann, nämlich eine eigene Bildsprache mit den Mitteln der Fotografie entwickeln. Andri Stadlers Werke reihen sich in diese Suche ein und führen die Fotografie an die Grenzen des Mediums.

Lange Zeit fotografierte Andri Stadler nachts. Die Bilder sind rätselhaft und auf den ersten Blick scheint es, als müssten sich die Augen erst gewöhnen um seine Motive zu erfassen, ähnlich dem Moment, wenn man von einem hellen Zimmer in die Dunkelheit tritt, beginnen Dinge erst langsam aufzutauchen. «Wenn man nachts allein unterwegs ist, versinken die Landschaften in eine andere Stimmung. Sie verlieren die Klarheit, die sie am Tag haben und dadurch entsteht ein Bereich, der über das hinaus geht, was sie am Tag darstellen. Das verändert die Wahrnehmung.»

Wie viel Dunkelheit ist möglich, wie viel Licht nötig? Andri Stadler lotet das in seiner Arbeit aus. Hier: Ohne Titel, Pass dal Spleia 7, 2020, C-Print, 262.5 × 175 cm Bild: Andri Stadler

Veränderung der Wahrnehmung

Im Gespräch kommt Andri Stadler immer wieder darauf zurück, wie wichtig die Wahrnehmung ist. Letztendlich ist die Veränderung der Wahrnehmung durch die Mittel der Fotografie ein Ziel seiner Arbeit. Dabei konzentriert er sich immer wieder auf einen bestimmten Aspekt: Dunkelheit, Helligkeit, Experimente durch Spiegel und Linsen, Schatten oder das Aufbrechen von Landschaft in Teilaspekte. «Letztendlich suche ich Situationen und Bilder die mich berühren.»

Die Verrätselung des Motives bricht mit den Sehgewohnheiten des Betrachters und verweigert sich schnell konsumierbar zu sein. Konträr zu dem Verhalten, das wir mit den Bilderfluten unserer Zeit verbinden, in denen Fotografien leicht verfügbar sind und eine gewisse Beliebigkeit bekommen. In dem Wunsch, Erlebnisse einzufangen, wird das Besondere häufig schneller mit dem Handy geknipst als bewusst erlebt. In den seltensten Fällen schaffen es diese Bilder allerdings tatsächlich den Moment zu transportieren.

Die Verrätselung des Motivs

Anders ist es bei den Arbeiten von Andri Stadler, bei denen er seine Aufmerksamkeit auf vermeintlich alltägliche Momente richtet: eine Uferböschung, Stadtlandschaften, Bergkulissen. Der Fotograf hebt diese aber durch seine künstlerische Sprache in den Kontext des Besonderen. Seine Bilder wirken, als würde er versuchen den besonderen Moment einzufangen und für den Betrachter konservieren zu wollen. Sie scheinen das Geheimnis des Besonderen in sich zu tragen und es dem Betrachter erst preiszugeben, wenn dieser offen dafür ist.

Seine Werke bewegen sich zwischen den Kontrasten von Dunkelheit und Helligkeit, das Licht wird zum Dramaturgen seiner Bilder. Geht man den griechischen Wurzeln des Begriffes Fotografie nach, aus dem altgriechischen φῶς, φωτός (phōs, phōtós) «Licht, Helligkeit» und γράφειν (gráphein) «malen, schreiben», kommt man auf eine Art von Lichtmalerei in der Übersetzung.

Eine Ansicht der letzten Ausstellungsituation - diese Arbeit gehört ebenfalls zum Projekt "Übergang-Passaggi" (aus der Vorbereitungs- resp. Startphase 2019) Ohne Titel, Stroppia 30, 2019, C-Print, 262.5 × 175 cm, Kunstmuseum Luzern 2019

Das Licht als Dramaturg

In den Anfängen der Fotografie wurde eine Nähe zwischen dem damals neuen Medium und der Malerei heftig diskutiert und von Kunstmalern völlig ausgeschlossen. Zu gross war die Skepsis wie ein Medium, das über Technik Realität abbildet, noch etwas mit dem Kunsthandwerk, dem viele Jahre an Ausbildung und künstlerischem Handwerk vorausgehen, mithalten könnte. Es war natürlich auch geprägt von einer Angst, dass die Schnelligkeit der Fotografie, Porträtisten obsolet machen könnte.

«Manchmal hat man das Gefühl, das Licht löst sich ab von den Objekten und wird nur noch zu Licht und Farbe.»

Andri Stadler, Fotograf

Die Fotografie vermag aber schon längst viel mehr als abzubilden und schafft es gerade mit dem Fokus auf die Mittel des Mediums neue Bereiche auszuloten. So konzentriert sich auch Andri Stadler auf das Wesentliche in der Fotografie: das Licht, und geht einen Schritt weiter in seiner Dekonstruktion der einzelnen Komponenten. Wie wenig Licht braucht es, um fotografieren zu können? Er bewegt sich dabei an den Rändern der fotografischen Möglichkeiten. «Manchmal hat man das Gefühl, das Licht löst sich ab von den Objekten und wird nur noch zu Licht und Farbe. Letztendlich ist ja sowieso alles was wir sehen nur das Licht, das von den Objekten reflektiert wird»

Die Werke von Andri Stadler entstehen nicht erst durch aufwendige Nachbearbeitung, sondern der Moment der Aufnahme und auch die Technik ist dabei entscheidend. Er versteht Fotografie wirklich als Handwerk und experimentiert mit optischen Werkzeugen zur Aufnahme, die er selbst entwickelt.

Die präzise Arbeit eines Fotografen

Der Fotograf reduziert Motive bis hin zur Abstraktion. Interessant ist, dass in der Kunst Abstraktion häufig mit einer formalen Strenge und Kühle zusammenkommt. Bei den Fotografien von Stadler ist dies jedoch anders, sie scheinen abstrakt durch ihre archaische Formsprache, suchen aber nach dem stimmungsvollen, fast schon emotionalen Moment im Motiv. Kann man Abstraktion tatsächlich emotional aufladen?

«In Wirklichkeit geht es mir weniger um die Abstraktion als mehr um die Reduktion. Wie schaffe ich es, dass nur noch das Nötige im Bild ist?» Als Fotograf muss er dabei präzise arbeiten, denn gerade weil er seine Motive so stark dekonstruiert, muss er dem Betrachter am Ende doch noch so viele Hinweise geben, dass er zumindest noch eine Spur des Motives findet.

«In Wirklichkeit geht es mir weniger um die Abstraktion als mehr um die Reduktion. Wie schaffe ich es, dass nur noch das Nötige im Bild ist?»

Andri Stadler, Fotograf und Förderbeitragsgewinner 2020

Auf seinem Weg die einzelnen Komponenten von Fotografie zu entschlüsseln verwundert es daher weniger, dass Andri Stadler seit längerer Zeit auch Tuschezeichnungen in Dialog mit seinen Fotografien zeigt. Dabei basieren die Zeichnungen immer auf einer Fotografie «Es ist wie ein Zwischenschritt, wenn ich Tuschezeichnungen mache. Die Zeichnung ist ein gutes Mittel um ein Bild näher anzusehen. Dabei geht es mir nicht darum, dass Bild abzuzeichnen, sondern eher darum das Bild besser kennenzulernen.»

Es scheint, als würde er in seiner Suche nach Reduktion durch die Übersetzung der Fotografie in Tusche einen weiteren Schritt gehen um zu sehen, welche Mittel es wirklich braucht um die Stimmung zu transportieren.

Mit Hilfe der Tuschezeichnungen will der Fotograf Andri Stadler seine Bilder besser kennenlernen. Ohne Titel, Eigental 2020,Tuschezeichnungen je 59 × 38.5 cm. Bild: Andri Stadler

Neue Serie im Alpenraum

Der Arbeitstitel seiner neuen Serie lautet «Übergang – Passagi» bei der es um geografische Übergänge im Alpenraum geht. Er hat für das persönliches Projekt den mit 25'000 Franken dotierten Förderbeitrag des Kantons Thurgau erhalten.

Dabei geht er zurück zu seinen Ursprüngen, während er im Thurgau aufwachsen ist, stammt seine Mutter aus dem Unterengadin und bei den Besuchen dort haben ihn die Pässe, die von einem Tal zum nächsten führen, schon immer fasziniert: «Von einem Tal zum nächsten verändern sich Dinge, plötzlich spricht man eine andere Sprache und die Kultur verändert sich. In meiner Kindheit habe ich das kennengerlernt. Wenn man sich den gesamten Alpenraum ansieht gibt es über 1200 befahrbare Übergänge und noch mehr, die man zu Fuss machen kann. Die Landschaft ist dabei unglaublich, die Kultur da oben verstummt und es hat eine Art ‘Nullzone’, wo die Natur einfach schön oder sogar tödlich sein kann. Sie macht einfach zu, wenn sie will.»

Für die Arbeit an der Serie hat er sich ein fahrendes Atelier gebaut und dabei einen Lieferwagen für seine künstlerischen Bedürfnisse ausgebaut und umgerüstet. Wenn die Grenzen sich nun langsam in der Zeit nach COVID-19 öffnen, soll es dann hoffentlich bald auch in den Alpenraum ausserhalb der Schweiz gehen.

Im August zeigt Stadler Arbeiten in Arbon

Ein paar seiner neuen Werke werden voraussichtlich im August 2020 (7. Bis 30. August 2020) bei der dritten Ausgabe des Geilen Blocks im ehemaligen Saurer Werk 1 in Arbon zu sehen sein. Das Ausstellungsformat in leerstehenden Gebäuden ist von der St. Galler Künstlerin Anita Zimmermann bzw. ihrer Kunstfigur Leila Bock initiiert worden und erhält in diesem Jahr Verstärkung von den Galeristen Jordanis Theodoridis und Werner Widmer.

 

Die Förderbeiträge und die Serie

Die Auszeichnung: Der Kanton vergibt einmal jährlich persönliche Förderbeiträge an Kulturschaffende aus dem Thurgau, die mit einem überzeugenden Vorhaben in ihrer Karriere einen Schritt weitergehen möchten. Die Förderbeiträge sind mit je 25 000 Franken dotiert. Die Förderbeiträge wurden von einer Jury vergeben, die sich aus den Fachreferentinnen und -referenten des Kulturamts und externen Fachpersonen zusammensetzt. Auch in diesem Jahr sei die Anzahl und Qualität der eingegangenen Bewerbungen hoch gewesen, teilt das kantonale Kulturamt mit. Die Ausgezeichneten wurden von der Fachjury aus 51 Bewerbungen ausgewählt.

 

Die Gewinner 2020 auf einen Blick: Ausgezeichnet werden in diesem Jahr: Rahel Zoë Buschor, Tänzerin (Sulgen), Markus und Reto Huber, bildende Künstler (Zürich), Julia Langkau, Autorin (Bern), Rhona Mühlebach, bildende Künstlerin (Dettighofen), Max Petersen, Musiker (Winterthur) sowie Andri Stadler, bildender Künstler (Luzern).

 

Die Serie: In einer Porträtserie stellen wir alle GewinnerInnen der diesjährigen Förderbeiträge vor. Die Folgen erscheinen in loser Reihenfolge.

 

Teil 1 der Serie: «Literatur kann uns Hoffnung geben»: Interview mit der Autorin Julia Langkau

Teil 2 der Serie: «Spagat zwischen zwei Welten»: Porträt der Tänzerin Rahel Zoë Buschor

Teil 3 der Serie: «Der Grenzgänger»: Porträt des Musikers Max Petersen

Teil 4 der Serie: «Expedition in die Dunkelheit»: Porträt des Fotografen Andri Stadler

Teil 5 der Serie: «Die Natur als politischer Ort»: Porträt des Künstler-Duos Huber.Huber

Teil 6 der Serie: «Auf der Suche nach Wildnis»: Porträt der Videokünstlerin Rhona Mühlebach

 

Das Dossier: In unserem Themendossier zu den kantonalen Förderbeiträgen werden alle Episoden der Serie gebündelt. Dort finden sich auch Porträts zu früheren PreisträgerInnen.

 

 

 

 

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Bewerbungsdauer: 1.-30. April 2024 über die digitale Gesuchsplattform der Kulturstiftung Thurgau.

Recherche-Stipendien der Kulturstiftung

Bewerbungen können bis 31. März 2024 eingereicht werden.

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