von Barbara Camenzind, 20.08.2022
«Ich forsche gerne nach dem Unerhörten.»
Erst der Schweizer Musikpreis, dann der Thurgauer Kulturpreis: In ihren Projekten beweist die Pianistin Simone Keller regelmässig die Kraft der Musik. Wie macht sie das nur? Ein Interview. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
Simone, zwei so wichtige Preise, einer aus deinem Heimatkanton, wie geht es dir damit?
Natürlich freue ich mich riesig. Ich habe mich nicht beworben. Als dann der Anruf kam, war ich überwältigt und hoch erfreut, dass jemand wie ich, die nicht gerade dem musikalischen Mainstream folgt, berücksichtigt wurde. Natürlich gäbe es einige andere, die ihn sicher auch verdient hätten. An sich bin ich nicht so auf die Aussenwirkung aus, sondern auf die Musik und ihre Kraft, die ich mit meiner Arbeit weitergebe.
Du wirst als eine der Schweizer Interpretinnen von Zeitgenössischer Musik gesehen und gewürdigt. Was heisst das?
So leicht zu schubladisieren bin ich eigentlich nicht. Grundsätzlich verstehe ich mich als klassisch ausgebildete Pianistin, die in dieser Tradition arbeitet. Ich spiele sowohl Konzerte mit Repertoire früherer Jahrhunderte, als auch Werke der Gegenwart. Mir ist es wichtig, die Neue Musik in dieser Tradition zu verstehen, ein Faden, der niemals abgerissen ist, sondern sich weiter in andere Formen spann und spinnt. Aber ja, ich gehe gerne an die Ränder des Musikuniversums, und forsche dort nach Unerhörtem. Spüre dem nach, was eben auch noch da ist.
„Musik ist auch Utopie.“
Simone Keller, Thurgauer Kulturpreisträgerin 2022 (Bild: Martin Etter)
Die isländische Sängerin Björk sagte einmal, Musik sei ein Abbild unserer Umwelt der Gegenwart. Sie klang im Maschinenzeitalter anders, als in unserer digitalisierten Welt. Was meinst du zu diesem Bild?
Ja – und nein. Musik ist einerseits Abbild, aber auch Utopie. Sie kann genauso gut ein Rückzugsort sein, in unserer immer komplexeren Welt. Sie bietet Raum für alle Gefühlsfacetten. Als ich mit Jugendlichen im Strafvollzug musikalisch arbeitete, spürte ich, wie unendlich tief dieses Bedürfnis sein kann, eine Gegenwelt zu erleben und wie gross die Kraft der Musik ist, Türen zu öffnen.
Dann ist musikalische Arbeit vor allem Beziehungsarbeit?
Nicht nur, aber auch. Für mich persönlich ist es zentral, mit und durch Musik in Kontakt mit Menschen zu treten und das Musizieren als soziales Ereignis zu sehen. Daher bemühe ich mich in meinen Projekten besonders intensiv um die zwischenmenschlichen Bedürfnisse.
Wie ist denn deine Beziehung zum Thurgau?
Der Thurgau hat mich von Grund auf geprägt und ist ein wesentlicher Teil meiner Identität. Ich bin auf einem Bauernhof aufgewachsen. Dort machte niemand Musik. Aber ich erlebte die Artenvielfalt, die Biodiversität, die Natur in all ihrer Gestalt. Ich hatte das Privileg, in einem der sichersten und wohlhabendsten Länder der Welt aufzuwachsen und meine grösste Leidenschaft zum Beruf machen zu dürfen. Dieses unermessliche Geschenk möchte ich mit anderen Menschen teilen, insbesondere mit denjenigen, die weniger privilegiert sind.
Video: So klingt Simone Keller
„Für mich persönlich ist es zentral, mit und durch Musik in Kontakt mit Menschen zu treten.“
Simone Keller, Pianistin
Wie gehst du mit Widerständen um, auch wenn etwas nicht funktioniert?
Ich bin mit Leib und Seele Live-Musikerin. Da kann es vorkommen, dass ich ein Jahr lang täglich an einem Werk übe, dann gibt es nur eine einzige Aufführung damit und es zerrinnt mir buchstäblich etwas davon unter den Händen. Das ist nicht immer leicht zu ertragen. Aber eben, es ist live. Das ist dann so und es ist ohne Netz und doppelten Boden gespielt worden und dazu stehe ich. Natürlich erlebe ich auch Widerstände, wenn es um die Art der Musik geht, die ich bringe und vertrete. „Ist das noch Musik?“ werde ich oft gefragt. In diesem Spannungsfeld lebe ich, arbeite ich.
Geht man die Programme Zeitgenössischer Konzertformate durch, fällt auf, dass Komponistinnen immer noch untervertreten sind. Täusche ich mich da?
Gar nicht. Die Musikwelt wird von weissen Männern dominiert. Als Frau muss ich in diesen Strukturen und Institutionen unbeirrt meinen eigenen Weg gehen. Wenn ich die Werke der russischen Komponistin Galina Iwanowna Ustwolskaja spiele, unter anderem eines, bei dem ich mit Bandagen buchstäblich auf das Klavier hämmere, polarisiert das. Ich höre dann manchmal: „Wie kann eine Frau so roh und so gewalttätig auftreten!“ Trotzdem bedeutet es mir viel, die Musik dieser Komponistin, die von Schostakowitsch hoch geschätzt wurde und 2006 starb, zu Gehör zu bringen, damit ihre Stimme, ihr Kampf und ihre Botschaft wahrgenommen wird in ihrer ganzen Brutalität. Auch wenn es schmerzt. Mir ist es wichtig, als Frau, als Musikerin solidarisch zu anderen Frauen zu sein. Zum Glück bin ich umgeben von starken Frauen und arbeite weiter daran, dass Frauen sicht- und hörbar werden.
„Der Thurgau ist ein wesentlicher Teil meiner Identität.“
Simone Keller, Musikerin
Das ist ein gutes Stichwort und führt zu einem weiteren deiner Herzensprojekte. Erzähl doch davon!
Sagt dir der Name Olga Diener etwas? Sie war eine St. Galler Dichterin und Komponistin, die von 1933-1943 in Altnau lebte. Über Olga ist sehr wenig bekannt. Sie studierte Violine und Komposition in ihrer Heimatstadt, später auch in London, Basel und Paris. Hermann Hesse befasste sich mit ihren Texten und urteilte etwas herablassend darüber, sie seien „viel zu sehr Traum“, Olga Diener sei „in einem Glashaus eingeschlossen, das sie von der Welt trenne“. Seinem Eindruck nach habe sie „ihre persönliche Geheimsprache der Allgemeinsprache nicht so annähern können, dass Sender und Empfänger einander entsprechen“. Für mich beschreibt Hesse damit genau die Einzigartigkeit und Eigenständigkeit dieser Frau, für deren Kompositionen ich sofort Feuer und Flamme war. Ich habe jetzt die Möglichkeit, in den Nachlässen zu forschen und freue mich sehr, sobald es geht, ein Olga-Diener-Konzert zu organisieren. Da suche ich noch nach Aufführungsorten.
Zum Schluss schenke ich dir ein Zitat von John Cage: You don‘t have to call it music, if the term shocks you“. Magst du es weiterführen?
(überlegt) Ja, er hat vollkommen recht Ist die Bezeichnung relevant? Müssen wir immer gleich alles benennen und schubladisieren, be- und verurteilen? Für mich ist viel wichtiger, dass wir uns alle erstmal gegenseitig mehr zuhören, uns wertfrei aufeinander einlassen und die Ohren spitzen.
Video: Zum Schweizer Musikpreis 2022
Video: Das Projekt Solos & Sights
Mehr über Simone Keller
Getrieben von der Neugier: Festtage für die Pianistin Simone Keller: Nach dem Schweizer Musikpreis erhält sie in diesm Jahr auch den Thurgauer Kulturpreis. Ein Porträt.
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Geniale Ruhestörung: Das Kukuruz-Quartett um die Thurgauer Pianistin Simone Keller gastierte mit Musik von Julius Eastman im Thurgauer Staatsarchiv. Was für eine berauschende Begegnung!
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Freilaufende Klänge: 70 Schüler, 10 Künstler: Am Wochenende wurde die Komturei Tobel zum Tontempel. Begleiten Sie unseren Autor Andrin Uetz auf seiner Klangreise.
Der Thurgauer Kulturpreis
Der mit 20'000 Franken dotierte Thurgauer Kulturpreis wird am Mittwoch, 24. August 2022, um 19.30 Uhr im Rahmen einer öffentlichen Feier im Eisenwerk in Frauenfeld an Simone Keller durch Regierungsrätin Monika Knill, Chefin des Departements für Erziehung und Kultur, übergeben. Die Laudatio hält die Musikjournalistin Theresa Beyer.
Mit dem Preis, der seit 1986 vergeben wird, spricht der Regierungsrat seinen Dank und seine Anerkennung aus für ausserordentliche kulturelle Leistungen von Privaten und von Institutionen, die das kulturelle Leben im Kanton in besonderer Weise bereichern. Eine Auswahl möglicher Trägerinnen und Träger des Kulturpreises wird dem Regierungsrat jeweils von der Kulturkommission des Kantons Thurgau vorgeschlagen.
Mehr zum Thurgauer Kulturpreis gibt es auch in unserem Themendossier.
Videoporträt von SRF
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