von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 18.09.2024
In der Höhle der Löwin
Liebenswert, intim, humorvoll: Die Feier zur Verleihung des Thurgauer Kulturpreises passt sich einigen Wesenszügen der diesjährigen Preisträgerin Rahel Wohlgensinger an. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
Es ist vermutlich nicht übertrieben zu sagen, dass fast alle Menschen ein insgeheim gehegter Wunsch eint: Einmal im Leben auf einer Bühne zu stehen und Würdigung und Anerkennung für all das zu erfahren, womit man sich tagtäglich so abstrampelt. Für diese Sehnsucht muss man nicht mal Künstler:in sein.
Auch Investmentbanker:innen, Erzieher:innen, Steuerberater:innen und Krankenpfleger:innen sehnen sich nach nach diesem Stoff. Es ist sehr wahrscheinlich das heisseste und wertvollste Gut, das es gibt. Könnte man diesen Stoff in Dosen abfüllen, wäre man ohne Umwege ziemlich sicher kurz vor Milliardär:in und Weltherrschaft.
Als allerdings am Montagabend in der kleinen, fast höhlengleichen, Theaterwerkstatt Gleis 5 in Frauenfeld bei der Verleihung des Thurgauer Kulturpreises der Applaus so laut aufbrandete und so viele Füsse der rund 130 geladenen Gäste beinahe ekstatisch auf den Boden trampelten, da konnte man sich für einen kurzen Moment nicht sicher sein, ob das für die Frau des Abends, die Preisträgerin Rahel Wohlgensinger, nicht schon gefährlich nahe an eine unangenehme Überdosis dieses Stoffes namens „Öffentlicher Aufmerksamkeit“ heran reichte.
Die Urgewalt des Candy Storms
Der Abend war da im Grunde gelaufen, die Puppenspielerin hatte sehr viele freundliche Worte über sich und ihr Kulturschaffen gehört und als es dann applausbedingt aus dem Publikum heraus sehr laut wurde in der kleinen Schuhschachtel namens Theaterwerkstatt, da huschte, angesichts dieses gewaltigen Candy Storms, der sie da erfasste, ein kurzer Zweifel über Wohlgensingers ansonsten sehr strahlendes Gesicht. Als wollte sie fragen: „Meint ihr wirklich mich?“
Tatsächlich war das ja eine eher ungewohnte Rolle für Rahel Wohlgensinger. In ihrer Kunst, dem Puppenspiel, rückt sie neben ihren Figuren oft in die zweite Reihe. Wenn sie gar nicht ganz verschwindet hinter der Kraft ihres Spiels. Jetzt, so beinahe nackt auf der Bühne zu stehen, schien ihr für eine Millisekunde unbehaglich.
Als hätte sie diesen Moment kommen sehen, hatte Wohlgensinger als Gegenmittel eine ihrer beliebtesten Figuren in einer quadratischen Tasche mit auf die Bühne geschmuggelt - den Hund Monty. In gewohnt schnoddriger wie liebenswürdiger Art quatschte er jede Unbehaglichkeit von der Bühne und auch Wohlgensingers Gesichtszüge entspannten sich in dem Moment als Monty die Regie übernahm.
Videoporträt: arttv über Rahel Wohlgensinger
Eine Meisterin ihres Faches
Stimmig war das allemal, weil Rahel Wohlgensinger ja gerade für ihr Puppenspiel mit dem wichtigsten Thurgauer Kulturpreis ausgezeichnet wurde an jenem Abend. Die Preisträgerin selbst rückte in ihrer Dankesrede denn auch ihre Disziplin in den Vordergrund: „Mit dieser Auszeichnung würdigen Sie auch die Sparte des Puppenspiels. Diese Anerkennung freut mich sehr, das Puppenspiel kann sie sehr gebrauchen“, sagte die Thurgauer Kulturpreisträgerin 2024 am Ende eines Abends, in dem sie selbst im Mittelpunkt gestanden hatte.
Zum Beispiel in der Ansprache der Regierungsrätin Denise Neuweiler. Auch für sie war das ja ein besonderer Moment: Die erste Kulturpreisverleihung als neue Departementschefin für Erziehung und Kultur. In ihrer Rede lobte sie die Preisträgerin Rahel Wohlgensinger als „Macherin und Teamplayerin“.
Eine ihrer herausragendsten Fähigkeiten sei es, vieles zu vereinen. Sie sei zudem eine fleissige und sehr genaue Arbeiterin. „Rahel Wohlgensinger ist eine herausragende Künstlerin, eine Meisterin ihres Faches und ein Beispiel dafür, wie sehr Kultur zu berühren vermag“, sagte die SVP-Politikerin, die das Amt erst im April von ihrer Vorgängerin und Parteifreundin Monika Knill übernommen hatte.
Gab es einen Versuch der Einflussnahme?
Je länger der Abend dauerte, umso intimer und humorvoller wurde er. Das erfasste auch Hans Jörg Höhener. Der Präsident der Thurgauer Kulturkommission gab nicht nur Einblicke in das Verfahren, wie die Thurgauer Kulturpreisträger:innen ausgewählt werden (immer 5 in sehr engerer Wahl, 20 Namen auf der short list, 28 Namen auf der long list), sondern offenbarte auch den Versuch einer ungewöhnlichen Einflussnahme auf die diesjährige Preisvergabe.
Herr Fässler, eine der Figuren von Rahel Wohlgensinger - ein alternder, oft mies gelaunter alter Esel - sei bei ihm vorstellig geworden und habe Einspruch einlegen wollen gegen die Preisvergabe an Wohlgensinger, enthüllte der Kulturkommissions-Chef. „Denn er meinte, eigentlich gebühre ihm der Preis. Schliesslich sei beim Puppenspiel ja auch nicht ganz klar, wer denn hier eigentlich wen spiele“, erläuterte Höhener.
Damit war der Ton gesetzt und es lag an Joe Fenner, dem Laudator des Abends, diesen Ball aufzunehmen. Fenner ist Schauspieler und Regisseur und langjähriger Wegbegleiter von Rahel Wohlgensinger. Gemeinsam mit Simon Engeli und Giuseppe Spina haben sie die Theaterwerkstatt Gleis 5 aufgebaut. Es war also klar, dass da jemand sehr persönlich über die Preisträgerin sprechen würde. „Ich habe alle Stücke von Rahel gesehen und ich war oft tief berührt, ergriffen und verzaubert von dem, was ich auf der Bühne sehen konnte“, begann Joe Fenner seine Rede.
Das einhellige Lob: Ihre Figuren leben
Er lobte das Puppenspiel als Möglichkeitseröffner im Theater, erinnerte sich daran, wie er das erste Mal Rahel und Monty gemeinsam auf der Bühne gesehen hatte und wie schon damals Monty alle anderen Schauspieler an die Wand gespielt habe. „Mit seinem lockeren Mund- und Maulwerk ist er ebenso kratzbürstig wie liebenswürdig. Das was für mich Rahels Kunst am meisten ausmacht ist, dass ihre Figuren wirklich leben. Sie sind ganz eigene Persönlichkeiten“, gab Fenner Einblick in seine Perspektive.
Fleiss, Hingabe und Leidenschaft seien Markenzeichen von Wohlgensingers Arbeit. Nicht nur in ihrem Puppenspiel, sondern auch in ihren Stücken für ganz junge Kinder, in denen sie nicht Figuren, sondern Materialien wie Stoff und Mehl zum Leben erweckt. Joe Fenner zeichnete aber auch das Bild einer Frau, die lange nicht wusste, was aus ihr werden sollte. Erst spät habe sie das Puppenspiel als ihre Kunstform entdeckt. Und das sei am Ende doch auch ein Trost für alle Eltern: „Selbst wenn ihr Kind sehr unentschlossen bei der Berufswahl ist, Rahels Beispiel zeigt, dass auch aus Zweiflern und Spät-Entschlossenen etwas werden kann!“
Wie man die Herzen des Publikums erobert
Und manchmal zeigt ja auch die Auswahl des Rahmenprogramms, welche Haltung ein:e Künstler:in an den Tag legt. Rahel Wohlgensinger hatte sich für die musikalische Begleitung eine langjährige Freundin und Weggefährtin gewünscht: Steffi Hess, die sich mit der Kindermusikband Silberbüx einen Namen gemacht hat. In wunderbar leichten Liedern begab sie sich auf Entdeckungstour durch die Natur und begegnete dort unter anderem Igel, Bären und Karpfen. Mit schlauen, eingängigen und sehr lustigen Texten sang sich Hess in die Herzen der Zuschauer:innen. Die Preisträgerin Rahel Wohlgensinger hatte sichtliche ihre Freude daran.
Mehr zum Kulturpreis
Der Thurgauer Kulturpreis ist die wichtigste Auszeichnung des Kantons. Sie wird jedes Jahr verliehen und ist mit 20’000 Franken dotiert. Der Preis würdigt ausserordentliche kulturelle Leistungen von Privaten und von Institutionen, die das kulturelle Leben im Kanton in besonderer Weise bereichern. Im Dossier bündeln wir Porträts zu Preisträger:innen.
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