Seite vorlesen

von Inka Grabowsky, 03.01.2022

Käsestreifen oder Kunst?

Käsestreifen oder Kunst?
Aus Autofahrersicht: Der „Lichtstrahl" an der Egelseestrasse. | © Harald F. Müller

#Lieblingsstücke, Teil 21: Ein Skulpturen-Ensemble von Harald F. Müller löste vor fast 30 Jahren in Kreuzlingen eine engagierte Diskussion aus. Ein Teil wurde deshalb nicht realisiert. Das Werk zeitigte eine Sofort-Wirkung: Jeder musste sich eine Meinung zu zeitgenössischer Kunst bilden. (Lesedauer: ca. 2 Minuten)

1993 entwarf Harald F. Müller ein vierteiliges Kunstobjekt für das Bildungszentrum für Bau und Mode in Kreuzlingen. An einem Teil davon fahre ich mit dem Velo regelmässig vorbei: an der 57 Meter langen Betonbarriere vor dem Sportplatz der Schule. Jahrelang dachte ich, das kniehohe Ding solle die Jugendlichen auf dem Spielfeld schützen. Vor Blendung durch Scheinwerfer vielleicht? Sinnvoll kam mir das nicht vor.

Aber bei Spaziergängen liebte es meine kleine Tochter, auf dem breiten Damm zu balancieren, um die Perspektive der Grossen einzunehmen. Das war eindeutig sinnvoll. So freundeten wir uns an, die Barriere und ich. Andere sind ihr weniger zugetan: „Käsestreifen“, „Rennbalken“ oder „Rammbord“ wird die lange Skulptur respektlos genannt. 

Ende September wurde die liegende Skuptur mit frischem Nickeltitangelb gestrichen - hier beim 1. Anstrich. Bild: Inka Grabowsky

Verbindung gab den Ausschlag

Entstanden ist sie nach einem Wettbewerb für die künstlerische Gestaltung des neuen Berufsschul- und Kurszentrums im Rosenegg-Areal. Der Architekt Christian Witzig war damals Stadtrat und in der entsprechenden Kommission beteiligt. „Wir hatten viele Teilnehmer“, erinnert er sich, „aber kein Beitrag hat mehr überzeugt. Den Ausschlag gab die Verbindung zwischen der neuen Schulanlage und der bestehenden Gewerbeschule in der Gaissbergstrasse. Das hat Harald F. Müller am besten hinbekommen. Der lange Klotz war wie ein Pfeil, der von der alten Schule die Richtung zum neuen Haus wies.“

Müllers Idee: Leuchtendes Gelb sollte die Jugendlichen auf ihrem Weg zwischen den beiden Standorten begleiten. Beim Gaissberg-Schulhaus sollte man auf eine gelbe Fläche treten, die gelbe Barriere entlanglaufen, am Rosenegg-Areal von einer grossen gelben Skulptur in Empfang genommen werden und schliesslich entlang einer gelben Wand ins neue Schulhaus gelangen.

Harald F. Müller steht parat, um das Gesamtwerk zu vollenden. Bild: Inka Grabowsky

„Gelber Klotz“ als Digitalskulptur

Das Konzept überzeugte alle Entscheider, doch einer der vier Teile rief Widerstand hervor: die kubische Skulptur zwischen Neubau, Rosenegg-Museum und Torggel. 2,3 Meter hoch, 3 Meter breit und 7 Meter tief hätte sie sein sollen. „Die Denkmalpflege befürchtete, dass der ‚gelbe Klotz‘ vor der Rosenegg und dem gerade sanierter Torggel stören würde“, so Witzig. „Der Meinung hat man sich dann gebeugt.“

Müller erinnert sich auch an ein Bürgergespräch, das das Projekt zu Fall brachte. Doch der Künstler suchte und fand einen Kompromiss. Er realisierte diesen Teil seines Werks im Computer. „Das war sehr zeitgemäss. Der Streit führte zu meiner ersten digitalen Skulptur.“ Insofern ist er den Kreuzlingern im Nachherein fast dankbar für die Anregung. „Ich hatte nie ein schlechtes Gefühl bei der Sache. Die Verantwortlichen sind sehr fair mit mir umgegangen.“

Ausserdem habe er die niveauvolle Auseinandersetzung durchaus geschätzt. „Wir haben eine Diskussion ausgelöst über Kunst, Architektur, Städtebau und soziales Miteinander.“

Die digitale Montage des frei stehenden Kubus von Harald F. Müller, wie sie auch am Ort des Geschehens ausgestellt war. Bild: Harald F. Müller

Pars pro toto

Die Projektion des umstrittenen Werks wurde einige Zeit in einem Schaukasten auf dem Platz zwischen Museum, Torggel und Schulhaus gezeigt. Inzwischen jedoch ist er abgebaut. Und die gelbe Bodenplatte vor dem Gaissberg-Schulhaus fiel Bedenken wegen erhöhter Rutschgefahr zum Opfer. Seit 2008 steht auf der Fläche ein Anbau. „Das Kunstwerk ist jetzt nicht mehr leicht zu verstehen“, sagt Christian Witzig. „Es ist jetzt wie zerrissen, weil nur noch zwei der vier Teile da sind. Sie bilden keine Einheit mehr.“

Müller sieht das gelassen: Jedes Teil stehe für sich und entfalte seine Wirkung, meint er. „Ich kann nicht verlangen, dass jeder immer das ganze Konzept vorher durcharbeitet.“ Immerhin wurde der lange Sockel im Herbst mit frischer leuchtender Farbe versehen. „Die gelbe Skulptur liegt wie ein Lichtstrahl an der Strasse“, beschreibt Müller. „Nickeltitangelb ist heller als Weiss, weil es das Licht noch stärker reflektiert.“ Bei der gelben Wand am Berufsschuleingang Rosenegg steht eine Sanierung noch aus.

Und wenn das geschafft ist, wäre Harald F. Müller durchaus bereit, das Gesamtwerk zu vervollständigen: „Die grosse Skulptur wird irgendwann gebaut“, ist er überzeugt. „Ich bin ja in der Nachbarschaft.“

Die gelbe Wand am Berufsschulzentrum Rosenegg ist noch da - wenn auch mit Setzungsrissen, wie der ehemalige Stadtrat Christian Witzig feststellen muss. Bild: Inka Grabowsky

 

Videobeitrag zur aktuellen Ausstellung von Harald F. Müller im Kunstmuseum Thurgau

 

 

Die Serie #Lieblingsstücke und wie Du mitmachen kannst

In unserer Serie #Lieblingsstücke schreiben Thurgaukultur-KorrespondentInnen über besondere Kunstwerke im Kanton. Das ist der Start für ein grosses Archiv der beliebtesten Kulturschätze im Thurgau. Denn: Wir wollen auch wissen, welches ist Dein Lieblings-Kunststück aus der Region?

 

Skulpturen, Gemälde, historische oder technische Exponate, Installationen, Romane, Filme, Theaterstücke, Musik, Fotografie - diese #Lieblingsstücke können ganz verschiedene Formen annehmen. Einige der vorgestellten Werke stehen im öffentlichen Raum, manche sind in Museen zu finden, andere wiederum sind vielleicht nur digital erlebbar. Die Serie soll bewusst offen sein und möglichst viel Vielfalt zulassen.

 

Schickt uns eure Texte (maximal 3000 Zeichen), Fotos, Audiodateien oder auch Videos von euch mit euren Lieblingswerken und erzählt uns, was dieses Werk für euch zum #Lieblingsstück macht. Kleinere Dateien gerne per Mail an redaktion@thurgaukultur.ch , bei grösseren Dateien empfehlen wir Transport via WeTransfer.

 

Oder ihr schreibt einen Kommentar am Ende dieses Textes oder zum entsprechenden Post auf unserer Facebook-Seite. Ganz wie ihr mögt: Unsere Kanäle sind offen für euch!

 

Mehr #Lieblingsstücke im Dossier: Alle Beiträge sammeln wir und veröffentlichen wir sukzessive im Rahmen der Serie. Bereits erschienene Teile der Serie sind gebündelt im Themendossier #lieblingsstücke zu finden.

 

Kommentare werden geladen...

Kommt vor in diesen Ressorts

  • Kunst

Kommt vor in diesen Interessen

  • Bildende Kunst
  • Architektur

Ist Teil dieser Dossiers

Werbung

Hinter den Kulissen von thurgaukultur.ch

Redaktionsleiter Michael Lünstroth spricht im Startist-Podcast von Stephan Militz über seine Arbeit bei thurgaukultur.ch und die Lage der Kultur im Thurgau. Jetzt reinhören!

#Kultursplitter - Agenda-Tipps aus dem Kulturpool

Auswärts unterwegs im April/Mai - kuratierte Agenda-Tipps aus Basel, Bern, Liechtenstein, St.Gallen, Winterthur, Luzern, Zug und dem Aargau.

Austauschtreffen igKultur Ost

Für eine starke Kulturstimme im Kanton Thurgau! Dienstag, 11. Juni 2024, 18.00 Uhr, Kult-X Kreuzlingen.

Literaturpreis «Das zweite Buch» 2024

Die Marianne und Curt Dienemann Stiftung Luzern schreibt zum siebten Mal den Dienemann-Literaturpreis für deutschsprachige Autorinnen und Autoren in der Schweiz aus. Eingabefrist: 30. April 2024

Atelierstipendium Belgrad 2025/2026

Bewerbungsdauer: 1.-30. April 2024 über die digitale Gesuchsplattform der Kulturstiftung Thurgau.

Kulturplatz-Einträge

Kulturorte

Kunstmuseum Thurgau

8532 Warth

Ähnliche Beiträge

Kunst

So grün war mein Herz

Am Ostersonntag ist der Doyen der hiesigen Kunstszene, Jürg Schoop, kurz vor Vollendung seines 90. Lebensjahres verstorben. Ein Nachruf von Kurt Schmid. mehr

Kunst

Die Unschuld des Kükens

Der Kunstverein Frauenfeld präsentiert bis 5. Mai die Ausstellung „Early Feelings“ mit Arbeiten von Ray Hegelbach. mehr

Kunst

Ueli Alder erhält Konstanzer Kunstpreis

Der Appenzeller Künstler erhält den mit 8000 Euro dotierten Konstanzer Kunstpreis. Mit der Auszeichnung ist auch eine Einzelausstellung verbunden. mehr