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von Brigitta Hochuli, 14.08.2014

„Kein Verein von Leichenbittern“

„Kein Verein von Leichenbittern“
Stefan Keller, Programmleiter des Bodman-Literaturhauses in Gottlieben | © Brigitta Hochuli

Das Bodman-Literaturhaus in Gottlieben feiert am Samstag den Sommer und die neue Literaturzeitschrift „Mauerläufer“. Dazu gibt‘s Lesungen von Szuzsanna Gahse und Hanspeter Wieland. Beat Brechbühl und Jochen Kelter sinnieren über Literatur aus der Region und in der Region. Räto Harder und Dominik Rüegg musizieren. Und ganz, ganz wichtig: Programmleiter Stefan Keller erläutert im folgenden Interview die fürs kommende Halbjahresprogramm von ihm und seiner Frau Annette Hug unter dem Titel „Das Ende des Schweigens“ gesetzten Veranstaltungen, die übrigens immer Anlass zur Lustigkeit böten.

Brigitta Hochuli

Herr Keller, Sie haben ein sehr spannendes zweites Halbjahresangebot zusammengestellt. Wir freuen uns ganz besonders auf die 85-jährige Helen Meier aus Trogen und den Solothurner Rolf Niederhauser. Zu diesen beiden passt auch das dramatische Motto des Programms. Was war zuerst? „Das Ende des Schweigens“ oder die Autorenliste?

Vielen Dank für das Lob. Natürlich ist die Autorenliste zuerst da. Sie entsteht aus Vorschlägen, die Annette Hug und ich getrennt über einige Monate sammeln und schliesslich zusammenlegen. Weil wir beide recht unterschiedliche Bücher lesen, ist eine gewisse Vielfalt garantiert. Das Motto entsteht erst beim Redigieren des Programmtextes. Vielleicht ist es eher ein Motiv als ein Motto – es greift etwas auf, was aus dem Programm selber kommt. Zu Helen Meier noch eine Bemerkung: Sie wurde in einer Vorankündigung als Appenzeller Autorin bezeichnet. Das hat sie ein wenig geärgert. Sie wohnt zwar seit langem in Trogen, ist aber ganz sicher keine regionale Autorin. Sie wird ausserhalb Appenzells mehr gelesen.

 

An drei von neun Abenden ist im Bodmanhaus Lyrik zu hören. Sie selber moderieren die Vorstellung von Jochen Kelters neuem Band „Hier nicht wo alles herrscht“. Warum lohnt sich Ihrer Meinung nach die Auseinandersetzung mit dieser doch eher schwierigen Gattung?

Wir denken wenig in Gattungen, wir lesen, was wir spannend finden. Dass es jetzt dreimal Lyrik gibt, ist uns erst im Laufe der Zeit aufgefallen. Allerdings werden wir mit Karin Kiwus und Jochen Kelter zwei der besten deutschsprachigen Lyriker hier haben, und mit Humberto Ak’abal einen der wichtigen indigenen Autoren Lateinamerikas – von Beat Brechbühl in Frauenfeld auf Deutsch verlegt und vom grossen österreichischen Autor Erich Hackl präsentiert. Das ist doch schon sehr besonders.

 

Nicht gerade gängiges Terrain betreten Sie zum Abschluss des Jahres auch mit James Joyce. Da ist das Publikum sogar aufgefordert mitzurätseln. „Finnegans Wake“ gilt als eines der am schwersten verständlichen Werke der Literatur des 20. Jahrhunderts. Haben Sie das Buch gelesen?

Nein, ich selber habe es noch nicht geschafft. Aber Annette Hug liest sehr viel Joyce, auch im englischen Original, und sie besucht die „Finnegans Wake“-Lesegruppe von Fritz Senn in Zürich. So kam dieser Kontakt zustande. Das wird wohl ein denkwürdiger Abend in der Geschichte des Bodmanhauses: Die besten Joyce-Experten rätseln und diskutieren öffentlich über einen Abschnitt aus „Finnegans Wake“. Wer Joyce mag oder wer ihn kennenlernen möchte, sollte das keinesfalls verpassen.

 

Weiter treffen wir am 25. September auf die Ostschweizerin Dorothee Elmiger, deren Literatur im Programm als waghalsig bezeichnet wird. Warum waghalsig?

Mit Dorothee Elmiger trat vor ein paar Jahren ganz überraschend eine sehr junge, sehr kluge Autorin mit einer sehr kräftigen, sehr eigenen und eben waghalsigen Stimme in die Literaturszene ein. Ich war von ihrem ersten Buch zuerst verstört und dann hingerissen. Inzwischen ist das zweite Buch da. Dorothee Elmiger ist übrigens auf unseren Vorschlag hin auch von der Kulturstiftung des Kantons Thurgau für das Schriftstellerstipendium im Bodmanhaus ausgewählt worden. Sie wird nächstes Jahr zwei Monate in Gottlieben leben.

 

Als umwerfend komisch beschreibt DIE ZEIT den Roman des jungen Bachmann-Preisträgers Tilman Ramstedt über einen ehemaligen Bankberater. Erhoffen Sie sich von dessen Besuch in Gottlieben einen lustigen Abend?

Für mich war noch fast jeder Abend im Bodmanhaus auch lustig. Wir sind ja nicht ein Verein von Leichenbittern. Wir lesen Literatur, damit das Leben interessanter wird. Und wir haben uns immer auch um die politische und wirtschaftliche Weltlage gekümmert. Ironie und Komik helfen uns hoffentlich, sie überhaupt auszuhalten.

 

Einer der Höhepunkte Ihres Literaturprogramms ist sicher auch die Lesung mit Gertrud Leutenegger, die laut Programmansage mit dem Roman „Panischer Frühling“ auf der Höhe ihrer Kunst steht. Beim Lesen bleibe einem manchmal die Luft weg. Ihnen auch, Herr Keller?

Es braucht viel, bis mir die Luft wegbleibt. Aber ja. Sonst stände das nicht da.

***

P.S.: Getrud Leutenegger ist mit ihrem Roman „Panischer Frühling“ auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2014. Allgemeine Begründung von Jurysprecherin Wiebke Porombka, freie Kritikerin: „... gestossen sind wir auf die verschiedensten Welten und Weltentwürfe und immer wieder konnten wir neu und anders und überraschend erleben, wie durch Sprache Welten nicht schlicht abgebildet, sondern allererst erschaffen wurden; beschädigte und irrwitzige Innenwelten genauso wie produktiv irritierende, vermeintlich ferne Aussenwelten, die aber mitunter mehr über die Gegenwart erzählen als das vordergründig Nahe liegende.“ - Die Shortlist mit sechs Titeln wird am 10. September bekanntgegeben. Die Preisverleihung ist am 6. Oktober. Eine Kritik an der Longlist-Auswahl lesen Sie in der WELT.

***

Detailprogramm des Sommerfestes vom 16. August und der Veranstaltungen vom 4. September bis 29. November 2014 auf bodmanhaus.ch.

 

Mauerläufer

Braucht diese Region eine neue Literatur- und Kulturzeitschrift? Sechs Herausgeber mit Wurzeln in der Meersburger Autorenrunde haben diese Frage mit Ja beantwortet und den „Mauerläufer“ auf die Beine gestellt. Regional, radikal und randständig will das literarische Jahresheft sein. Und hat als Themenschwerpunkt in seiner ersten Ausgabe die Gebärdensprache der Gehörlosen gewählt. Weil sie sich am radikalsten von unserer Sprache unterscheidet. Weil sie eine Kultur mehr ist. Dazu kommt der freie Thementeil. Mit viel Raum diesmal für Hermann Kinder, der mit seinen Texten und Zeichnungen Grenzen, auch Schmerzgrenzen, auslotet.

 

Insgesamt 28 Autoren aus der Region zwischen Allgäu und Hegau, Oberschwaben und dem Schweizer Bodenseeufer, Meersburg und St. Gallen sind im Heft vertreten. Eva Hocke als Grafikerin und Gestalterin fasst deren Texte und die Fotos von acht Fotografen zu einem Gesamtbild zusammen, das den „Mauerläufer“ zu einem ebenso schönen wie seltenen Vogel macht.

 

Der Mauerläufer (Tichodroma muraria) ist übrigens auch ein Vogel aus der Familie der Kleiberartigen. Er bewohnt Felswände und Schluchten in Gebirgen, die Mehrzahl seiner Brutplätze liegt in der alpinen Stufe. (pd/red)

 

Mauerläufer: Literarisches Jahresheft 1. Ausgabe Mai 2014, Biberacher Verlagsdruckerei; Hippe Habasch, Jochen Kelter, Christa Ludwig, Katrin Seglitz, Hanspeter Wieland, Eva Hocke (alle Herausgeber)

 

 

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