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«Vielleicht ist das jetzt mein letztes Buch.»

«Vielleicht ist das jetzt mein letztes Buch.»
«Die politischen Motive werden in meinen Büchern meist überhört.» Die Autorin Zsuzsanna Gahse im Interview über ihr neues Buch «Spielbeginn. Verrutschungen.» Grosse Auszeichnung: Im Februar 2019 erhält Zsuzsanna Gahse den wichtigsten Schweizer Literaturpreis, den Grand Prix Literatur. | © Maurice Haas

Nächstes Jahr wird die grosse Autorin Zsuzsanna Gahse 80, jetzt ist ein neues Buch von ihr erschienen. Ein Gespräch über Sprache, Theater, Politik und das Schreiben im Alter. (Lesedauer: ca. 5 Minuten)

Frau Gahse, Sie haben im Vorfeld gesagt, Sie hätten sich beim Schreiben Ihres neuen Buchs ausgetobt und Neues ausprobiert. Wenn man die ersten Seiten liest, denkt man fast: Wow, was ist das? Ist das Sprachtheorie? Eine Übung? Spracherkundung? Wie würden Sie das selbst einordnen – kann man das überhaupt schubladisieren?

Eine witzige Frage ist das! In diesem Buch geht es um ein Schauspiel, bei dem die Sprache im Mittelpunkt steht, einfacher gesagt sind einige Personen auf der Bühne, die zunächst atmen, keuchen, hüsteln, und allmählich reden sie los, über die Sprache. So das Konzept. Ich wollte kein kompliziertes Drama schreiben, keineswegs in die Nähe der guten Klassiker geraten. Mein Theaterstück zeigt eine Hauptprobe und zugleich die erste Aufführung. Die Bühnenfiguren warten auf zwei Hauptpersonen, die leider ausbleiben. Also halten sich die Schauspieler warm, indem sie sich über Wörter und Sprachen unterhalten. Was sie sagen, ist mir wichtig, zum Beispiel, dass Wörter aus fremden Sprachen „wie Echsen herbeikriechen“. Das ist wirklich so – unsere Sprache ist voll von Wörtern, die oft unmerklich aus fremden Sprachen gekommen sind.

Das klingt abwertend. Ist das kritisch gemeint?

Überhaupt nicht, es ist eine schlichte Beobachtung. Durch die anfangs fremden Wörter, die sich später eingewöhnen, ist unsere Sprache faszinierend. Die Wörter wandern. Bank zum Beispiel bedeutete früher deutsch Sitzbank, im Italienischen dann Geldinstitut. Mich interessieren diese Wanderungen und die Veränderungen auch in der Aussprache. Aber hin und wieder kann es auch zu viel fremde Partikel geben. Eine der Bühnenfiguren, ein Clown, sagt, ihm springe das Englische zu oft herüber, wie Flöhe, und er sei schon voller Stiche. Sprache verändert sich ständig, das will ich vorführen. In diesem Sinn ist mein Stück vielleicht ungewohnt: Mit Hilfe der Sprechenden steht die Sprache auf der Bühne – nackt, von allen Seiten betrachtet.

Worauf bezieht sich der Titel „Spielbeginn“?

Auf den Beginn des Theaterspiels.

 

«Ich möchte, dass die Lesenden auch mal lachen, dass sie die Sätze geniessen.»

Zsuzsanna Gahse, Schriftstellerin (Bild: Maurice Haas)

Warum haben Sie für Ihr neues Werk gerade die Form eines Theaterstücks gewählt?

Ich hatte die Vorstellung, dass mehrere Personen flüstern, rufen, keuchen und dann zu reden beginnen. Diese Situation gehört auf die Bühne, dachte ich dann. Zunächst rufen die Leute einander. Mir gefällt, dass die Vokale – also die Selbstlaute – mit dem Rufen, mit dem italienischen vocare zusammenhängen. Es gefiel mir ausserdem, dass die Schauspieler miteinander reden und streiten können. Und dann wollte ich, dass sie zu singen beginnen. Sprache ist ohnehin Musik. Eine der Personen sagt, dass die Musik schon vor dem Urknall vorhanden war, was mir wichtig erscheint, auch wenn ich die Aussage nicht unbedingt ernst meine. Und weil die Schauspieler die ganze Zeit über auf zwei vermisste Hauptdarsteller warten, ergab sich die natürliche Fortsetzung, dass von den Fehlenden Notizen vorliegen. Nachdem die Theateraufführung vorbei ist, geht es im zweiten Teil des Buches mit den vorgefundenen Notizen weiter, mit Prosa. Aber nach wie vor stehen Beobachtungen von verschiedenen Sprachen und Dialekten im Vordergrund. Die zwei Hauptdarsteller sind übrigens in der Bodensee-Region unterwegs, so dass die Landschaft mitspielt.

 

Vita und Preise: Mehr über Zsuzsanna Gahse

Zsuzsanna Gahse wird 1946 in Budapest geboren. 1956 flüchtet sie mit ihrer Familie aus Ungarn und lässt sich zuerst in Wien und später in Kassel nieder. 1983 erscheint ihr erster Roman Zero, den sie auf Deutsch verfasst. Zsuzsanna Gahse lebt lange in Stuttgart, danach in Luzern und seit 1998 in Müllheim im Thurgau. Das Werk von Zsuzsanna Gahse umfasst über vierzig Bücher und unzählbare Veröffentlichungen. Sie hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten. Zuletzt (2019) zum Beispiel den mit 40'000 Franken dotierten Grand Prix Literatur des Bundesamt für Kultur.

Texte über Zsuzsanna Gahse bei thurgaukultur

Ein literarisches Alpenpanorama: Zsuzsanna Gahse erobert in ihrem neuen Buch „Bergisch teils farblos“ das Hochgebirge auf ihre Weise und demonstriert in 515 Anmerkungen ihre immer wieder in Erstaunen versetzende literarische Sicht auf ihre Umgebung. (November 2021)

Frauenfeld ist überall: Die Grand-Prix-Preisträgerin Zsuzsanna Gahse hat ein neues Buch vorgelegt: «Zeilenweise Frauenfeld» ist ein experimentelles, witziges und geistreiches Spiel mit der Sprache. (Oktober 2023)

Frau Gahse, wie geht es der Sprache? Interview aus dem Januar 2023 anlässlich der Neuauflage ihrer Texte zu ihren Bamberger Vorlesungen.

Zungenfertigkeit: Die Autorin und Grand-Prix-Preisträgerin Zsuzsanna Gahse über erste Male und erste Mahle. Und was das eine mit dem anderen verbindet. (Januar 2021)

Das Ausziehen ist ein Kunstwerk: Ein Umzug steht bevor. Das bedeutet neben dem Packen viel Entrümpeln und Leeren. Der Erzählerin in Zsuzsanna Gahses aktuellem Buch „Schon bald“ eröffnen sich in den nun fast leeren Räumen neue Perspektiven, die sie kreativ zu nutzen weiss. (Oktober 2019)

Das Buch ist sprachlich herausfordernd. An einer Stelle des Textes sagt eine der Figuren, sie wolle die Verwirrung der Salamander sehen. Daran anschliessend: Wollen Sie die Verwirrung Ihrer Leser:innen sehen?

Lieber möchte ich, dass die Lesenden auch mal lachen, dass sie die Sätze geniessen. Falls sie etwas nicht verstehen, sollen sie weiterlesen – man muss nicht restlos alles verstehen. Nicht erst bei diesem Buch dachte ich, was ich beim Lesen von Der Zauberberg gelernt habe. Thomas Mann schreibt tausend Seiten, und geblieben sind mir drei Bilder – die Schlitten, die mit den Toten talwärts fahren, Madame Chauchat, die durchs Haus schleicht, und der Gedanke, dass die Zeit eine Konserve ist. Für drei solche Eindrücke möchte ich keine tausend Seiten schreiben. Wichtig aber sind bleibende Bilder.

Viele Ihrer Figuren haben kein festes Geschlecht. Warum war Ihnen das wichtig?

Ich wollte zeigen, dass es auch ohne „er“ oder „sie“ geht. Es gibt Sprachen, die kommen ohne solche Markierungen aus, was ich interessant finde. Meine Bühnenleute sind fast ausnahmslos weder Frau noch Man oder beides zugleich. Ich wollte ein Stück unabhängig vom Gendern schreiben, eher gegen die Trennungen von Frau und Mann. Und die Prosanotizen im Buch stammen von zwei Männern – sie hätten genauso gut zwei Frauen sein können, aber ich hoffe, zwei halbwegs sympathische Männer beschrieben zu haben. Allmählich könnten Frauen positive Männerfiguren darstellen. Von männlichen Autoren wurden uns grossartige Frauenfiguren vorgestellt – warum nicht umgekehrt?

«Ich wollte ein Stück unabhängig vom Gendern schreiben, eher gegen die Trennungen von Frau und Mann.»

Zsuzsanna Gahse, Schriftstellerin

Sie haben angedeutet, das jetzt vorliegende Buch könnte Ihr letztes sein. Woran liegt das?

Ich habe über 30 Bücher geschrieben, hinzu kommen etliche Übersetzungen. Vielleicht wäre es jetzt besser, langsamer zu werden, kürzere Zeilen zu schreiben. Nur ist das kein endgültiger Entschluss, eher eine Phase für neue Betrachtungen. Ich habe aktuell kein konkretes Buchprojekt. Andererseits könnten zwei oder drei weitere Bücher hinzukommen. 

Haben Sie nichts mehr zu sagen?

Man müsste uns bei diesem Gespräch zuschauen und das gemeinsame Lächeln sehen. Doch, ich habe noch einiges zu sagen, nur will ich im Augenblick keine Buchprojekte planen. 

Sie erwähnten, dass sich in Ihrem Schreiben auch politische Motive zeigen. Inwiefern verstehen Sie Ihr Werk als politisch?

Zum Beispiel schreibe ich immer wieder über Fremde. Ihre Situation interessiert mich. Sie beschäftigen mich.

Wen meinen Sie mit den Fremden? 

Wenn ich in Frauenfeld auf der Hauptstrasse Menschen antreffe, die andere Sprachen sprechen. Im neuen Buch gibt es eine Szene, in der die Fremden gefragt werden, wie es ihnen geht. Sie erzählen dann, aber man hört ihnen kaum zu. Eine solche Beschreibung ist politisch oder gesellschaftskritisch. Kürzlich habe ich eine Fernsehsendung gesehen, in der Forscher berichten, dass Menschen beim Zuhören oft nur so tun, als wären sie aufmerksam. Mit dem Nichtzuhören werden die Fremden im Grunde „heimgeschickt“.

 

«Die genaue Beobachtung der Gegenwart kann nicht unpolitisch sein, sonst ist sie ungenau.» 

Zsuzsanna Gahse, Schriftstellerin

Bedauern Sie, dass Sie in der Öffentlichkeit nicht als politische Autorin wahrgenommen werden?

Ein wenig schon. Die politischen Motive werden in meinen Büchern meist überhört. Vielleicht, weil ich nicht laut klagend schreibe. Aber immer wieder beschreibe ich die Gegenwart. Die genaue Beobachtung der Gegenwart kann nicht unpolitisch sein, sonst ist sie ungenau. Was mich interessiert, sind Menschen und ihre Umgebung. 

Fühlen Sie sich selbst manchmal noch fremd in der Schweiz?

Manchmal meine ich, dass ich für die Deutschen eine Schweizerin bin, für die Schweizer eine Deutsche. Dadurch bin ich mitunter eine Ausländerin. Da ich aber viele Länder mag, bin ich zumindest eine Europäerin. Auch das Indonesische peile ich im neuen Buch an. Ich bin froh, die ungarische Sprache nach wie vor gut zu kennen, obwohl ich Ungarn als Kind verlassen hatte. Sicher aber bin ich deutsch sozialisiert. Ich lebte lang in Kassel und in Stuttgart und habe dort als Jugendliche Freundinnen und Freunde kennengelernt. Das ist entscheidend. Und in der Schweiz bin ich schon seit Jahrzehnten, auch diese Zeit gehört eng zu mir.

Was bedeutet Ihnen das literarische Schreiben heute – nach so vielen Büchern, Preisen und Jahrzehnten?

Immer noch viel. Immer noch bin ich froh an meinem Schreibtisch. Nach wie vor interessiert es mich, erzählend zu experimentieren. 

Was würden Sie sich für den Literaturbetrieb wünschen?

Mehr Platz für Zwischentöne, für Stimmen, die nicht laut sind, die ihren Witz haben. Und schön wäre es, wenn nicht nur gut verkäufliche Romane und Gedichte akzeptiert wären, sondern auch spielerische Konzepte. 

 

Lesung: Am Donnerstag, 20. November, 19:30 Uhr, stellt Zsuzsanna Gahse ihr neues Buch im Literaturhaus Thurgau vor. Alle Infos zur Veranstaltung gibt es hier. Das Buch «Spielbeginn. Verrutschungen.» ist in der Edition Korrespondenzen erschienen und unter anderem hier erhältlich.

 

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