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von Barbara Camenzind, 21.05.2024

Klangträume und Komplizen

Klangträume und Komplizen
Ein starkes Team: Isabelle Faust (in der Mitte mit der Geige) und ihre Mitmusizierenden, nach dem berauschend schönen Beethoven-Septett. | © Barbara Camenzind

Mit „Notturno“ verzauberte die künstlerische Leiterin Isabelle Faust ihr Publikum bei den Ittinger Pfingstkonzerten 2024, auch wenn da und dort Fragen offen blieben. (Lesedauer: ca. 5 Minuten)

Einem Tasteninstrumente-Fan musste die Ittinger Remise in diesem Jahr wie ein Traumland vorgekommen sein. Drei Flügel aus verschiedenen Zeitepochen kamen zum Einsatz. Wie intim und seidig klangen Schumanns drei Romanzen op. 94, komponiert 1849 für Oboe und Klavier, gespielt auf den Instrumenten der Zeit. Hochsensibel interpretiert von Josep Domènech Lafont (Oboe) und Alexander Melnikov am Pleyel-Flügel.

Wie ein roter Faden – oder synästhetisch wahrgenommen ein blauer Lichtstrahl – zogen sich durch mehrere Konzerte die Klangfäden aus György Kurtágs Sammlung „Signs, Games and Messages“, die er zwischen 1993 und 2003 komponierte. Diese karge, hochdifferenzierte Musik wurde von Isabelle Faust (Violine) und Antoine Tamestit (Viola) leisest in den Saal entlassen. Kurtág wirkte wie eine Art künstlerischer Lichtschalter zwischen den Jahrhunderten und als einer der Komplizen der künstlerischen Leitung des gesamten Festivals.

Es gibt Momente, da ist Musik so schön, dass es fast weh tut. Franz Schuberts Notturno in Es-Dur, komponiert 1827, war so ein Moment. Gespielt von Isabelle Faust, Jean-Guihen Queyras (Violoncello) und Alexander Melnikov (Hammerflügel). Es klang, als hätte der Komponist selbst mitgespielt. Wahrscheinlich hatte Franz Schubert, Hilfslehrer im Wiener Alsergrund und Antiheld in Sachen Selbstvermarktung, selten die Gelegenheit, so ein schönes „Clavier“ zu spielen. Mit dem erfrischend farbig interpretierten Klavierquintett in Es-Dur op. 44, 1842 komponiert von Robert Schumann, ging das Mittagskonzert am Samstag zu Ende.

Schockverliebt in „Claviere“

Erst wenn der Unterschied zu hören ist, wird einem gewahr, was Musikinstrumente ausmachen. Die beiden historischen Flügel, der sorgsam restaurierte kurze Flügel von Ignaz Pleyel aus dem Jahr 1851 und der Nachbau eines langen Hammerflügels nach Conrad Graf (Wien 1826), bei dem die Saiten noch an einem Holzrahmen angebracht sind, brachten die rhetorische Präzision und den sängerischen Duktus zurück in die Tastenmusik.

Wie eine Singstimme verfügen solche Instrumente über Register mit verschiedenen Tonkörperteilen. Die Musik knallt bei ihnen nicht einfach brillant in den Saal, sondern fügt sich dem kompositorischen Gefühl. Gerade in den Koloraturen, gerade dort, wo Töne sprechen und nicht nur gross klingen sollen. So ein Instrument muss natürlich gut gespielt werden.

 

Ein Künstler und drei Generationen Klaviere: Alexander Melnikov spielt am Hammerflügel aus Schuberts Zeit, links der kurze Pleyel-Flügel und dahinter steht der Steinway. Bild: Barbara Camenzind

Familientreffen der Tasteninstrumente

Ein „Komplize der Nacht“, ein Held der diesjährigen Ittinger Pfingstkonzerte, war ganz sicher Christoph Kern aus Staufen im Breisgau, der die beiden „historischen Herren“ aus seiner „Clavierwerkstatt“ mitbrachte und diese vor Ort auch betreute.

Der jüngste im Bunde, quasi der „Enkel des Grafen“, war ein schwarzer Steinway-Flügel der Gebrüder Bachmann in Wetzikon, der bei der Musik des 20. Jahrhunderts seine ganze Pracht entfaltete. Dieses Familientreffen der Tasteninstrumente war ein echtes Highlight.

Heimwehklänge und Othmars Traum

Konzert drei am Samstagabend, dem „Schweizer Abend“, lockte dem Publikum erratisch tiefe Klänge, melodiöse Auffächerungen von Akkorden und frechdachsige Swing-Rhythmen ins Ohr. Der schweizerisch-amerikanische Komponist Ernest Bloch (1880–1959) mit jüdischen Wurzeln ist zu Unrecht in Europa etwas vergessen gegangen. Warum wird eigentlich immer nur dieser Dvořák mit seiner „Neuen Welt“ gespielt?

Bloch kann ihm, auf jeden Fall, in einer moderneren Form das Wasser reichen. Und er schien Heimweh zu haben, denn der sehnsüchtige Melodiebogen eines Waadländer Volksliedes schimmerte immer wieder durch seine „Trois Nocturnes“, komponiert 1924 in den USA. Toll gespielt von allen Beteiligten. Hellwache Botschaften wurden dann aus dem Beethoven-Universum gesendet. Im Septett op. 20 von 1799/1800, Bläser und Streicher herausfordernd gegenüber, koordiniert vom Kontrabass in der Mitte, klingt viel Zeitgeist nach.

Beethoven war ja dafür zu haben, die Umbrüche seiner Gegenwart toll zu finden. Bis ihn der kleine Korse nervte. Ob es Ludwigs unterschwelliger Mutterwitz war oder der verschwörerische Geist im Ensemble: Es hat Spass gemacht, den sieben Sätzen zuzuhören. Revolutionen werden in der Nacht erst schön.

 

Johann Heinrich Füssli: Der Nachtmahr (1790). Wir illustrieren diesen Text mit Bildern von Gemälden, die zur Zeit und der Musik der aufgeführten Komponisten passen. Bild: Wikisource

Die alte Frage: Wie trennt man Werk und Künstler?

Othmar Schoecks Notturno op. 47, komponiert 1931–33 (er war ein Zeitgenosse Blochs), stellt einen vor die herausfordernde Frage: Kann ein Mensch von seinem künstlerischen Schaffen getrennt werden? Bevor der Redaktionsserver durchglüht: Jein. Ja, weil er handwerklich allerfeinste Kompositionsarbeit abgeliefert hat, und nein, weil sich der einstige Musikdirektor der Tonhalle St. Gallen nicht nur mit seinem Opportunismus gegenüber seinen „angebräunten“ Freunden und dem Musikschaffen im Dritten Reich in eine kritische Ecke manövrierte: Herrjemine, ist das selbstverliebte Musik. Grosse Musik, sicher, aber sowas von egozentrisch-abgründig.

Dann dazu noch diese schwadronierenden Texte von Nikolaus Lenau und Gottfried Keller: „Die Rose lauscht ins liebliche Getose“ oder „Warum denn aber wird dem Erdenleben so bange, Wenn es ein Schein nur ist, vor seinem Untergange?“ Uff.

Die Albträume unserer Zeit

Die Musik ist in der Kompositionstradition von Hindemith und Krenek geschrieben, allerdings eher ohne deren Humor. Dafür mit ganz viel Detaché am Geigenbogen. Dem Streichquartett und vor allem Sänger Nikolay Borchev sei hier ein grosses Kompliment ausgesprochen. Konzentriert, klar, ausgewogen und präzise im Dienste der Musik, blieben sie dahinter unverführt.

Am Schluss, beim „Heerwagen, mächtig Sternbild der Germanen“ und den flirrenden Lohengrin-Zitaten wurde einem wirklich etwas bange. Soll man sowas noch aufführen? Nein. Oh ja. Zur Mahnung. Selbstverliebt genug sind die Albträume unserer Gegenwart.

Schubert in der Zeitschere

Ein leichtfüssig-witziges „Gespräch unter Freunden“ gehalten von Lafont an der Oboe, Lorenzo Coppola, Klarinette und Bart Aerbeydt, Horn, in Wolfgang Amadeus Mozarts Quintett in Es-Dur. Das gab den Einstieg ins Konzert fünf am Sonntag.

Danach verzauberte Pianist Melnikov seine Zuhörenden an allen drei Klaviergenerationen mit je einer Nachtmusik: Drei Nocturnes, von John Field, von Frédéric Chopin und von Edvard Grieg. Tosender Applaus. Was für eine schöne Programmerweiterung. Anton Weberns drei Miniaturen für Violoncello und Klavier lotsten mit Christian Poltéras feinem Bogenstrich wieder die Stille in den Saal.

 

Caspar David Friedrich: Zwei Männer in Betrachtung des Mondes (1819/20). Bild: Wikisource

 

Und dann: Schade. So schade! Warum wurden Franz Schuberts grosse Lieder der Nacht nicht mit Christoph Kerns Hammerflügel gespielt, sondern mit dem Steinway? Was für eine klangliche Zeitschere! Alvetina Sagitullina war dem Bariton Nikolay Borchev eine sensible Begleiterin, das Instrument aus Schuberts Zeit hätte einfach so gut zur Musik gepasst.

Beim Lied „An den Mond“ D 193 war Borchev tongebend und sprachlich noch zu verhalten unterwegs – ihm stand „Nacht und Träume“ bevor. Etwas vom Schwersten, was der Liederfürst komponiert hatte, mit den ewig langen Legatobögen auf dem Atem. Das kann zum Albtraum werden.

Hut ab vor Borchevs geschickter Stimmführung und kluger Version. Sie hat gefallen und danach sang sich der Sänger deutlich lockerer, versammelter und präziser in die Herzen seines Publikums, vor allem mit „Willkommen und Abschied“.

Tauchgang ins Nirvana

Gustav Klimt: Judith und Holofernes (1901) (Quelle: Wikisource)

 

Einsteigen und Abtauchen: Das Konzert in der Klosterkirche um 21 Uhr entführte einen ins musikalische Nirvana. Die Fantazias von Henry Gibbons, gespielt von Kristin von der Goltz (Barockcello) und James Munro (Kontrabass), fügten sich magisch in Kurtágs „Schattenmusik“ und „für Valérie“ für Bass solo, aus dieser Sammlung, die die gesamten Ittinger Pfingstkonzerte begleiteten. Ferne Gewitterklänge und geisterhaftes Grummeln im Wechselspiel mit Gibbons' Melodietreppen, zu denen auch Isabelle Faust und Anne Katharina Schreiber einige Wendungen beisteuerten.

Irgendwann war das Ohr in Trance, derweil draussen die Vögel die Dunkelheit begrüssten. Diese Dunkelheit blieb nicht draussen, sie kroch mit Arnold Schönberg und seiner „Verklärten Nacht“ in die Klosterkirche hinein.

Musik als Feuerwerk der Hochromantik… mit sehr unkeuschen Gedanken. Diese wunderbare Gratwanderung zwischen freien Tönen und erotischen Akkorden war ein Erlebnis für sich. Sigmund Freud, ein Wiener Zeitgenosse Schönbergs, entwickelte die Psychoanalyse. Schönberg lieferte den Soundtrack dazu. Die Nacht mit all ihren Klangfarben und Verführungen verwandelte sich in Ittingen zu einem spannenden Musiktraum. Danke dafür.

 

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