von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 09.10.2023
Kultur für wen eigentlich?
„Kultur für alle!“ ist ein Slogan aus den Siebziger Jahren. Viele der Forderungen sind noch immer aktuell. Warum es trotzdem eine Neuformulierung braucht. Die Thurgauer Kulturstiftung widmet dem Thema die diesjährige Kulturkonferenz am 28. Oktober. (Lesedauer: ca. 5 Minuten)
Als Hilmar Hoffmann (1925-2018) sein Buch „Kultur für alle!“ 1979 veröffentlichte war das ein Weckruf für Viele. Weil der Kulturpolitiker die Bedeutung von kultureller Bildung für die Gesellschaft betonte und weil es ihm darum ging, die Künste aus dem Elfenbeinturm herauszuholen.
Demokratisierung der Kultur, kulturelle Bildung als Mittel, um soziale Ungleichheit abzubauen, mehr kulturelle Vielfalt, eine stärkere Integration von Kunst und Kultur in den Lehrplänen an Schulen und raus aus der Konsumhaltung rein in eine aktive Teilnahme an kulturellen Aktivitäten, waren zentrale Forderungen von Hoffmanns Buch. Das Ziel war kulturelle Bildung dazu zu nutzen, um die kulturelle Identität einer Gemeinschaft zu stärken und das Gefühl der Zugehörigkeit zu fördern.
Hoffmann selbst verstand sein vor 44 Jahren erschienenes Buch vor allem als Ratgeber für Stadtparlamentarier und Kulturpolitiker: „Ich wollte Argumente anbieten, um den im Buch aufgelisteten Defiziten einer planlosen Kulturpolitik besser begegnen zu können“, sagte er in einem Interview im Jahr 2016. Zwei Jahre später verstarb er im Alter von 92 Jahren.
Viel passiert, wenig erreicht
Was bleibt heute noch von seinen Ideen? Wie weit sind wir auf dem Weg gekommen? Die Bilanz ist eher zwiespältig. Einerseits ist in den vergangenen Jahrzehnten in vielen europäischen Ländern viel in die kulturelle Infrastruktur investiert worden. Andererseits offenbar noch nicht genug, um von einer „Kultur der Wenigen zu einer Kultur der Vielen“ zu gelangen, wie Hilmar Hoffmann es sich vorgestellt hatte. Noch immer bleiben zu viele Menschen von den öffentlich finanzierten Kulturangeboten ausgeschlossen. Noch immer gibt es einen klaren Zusammenhang zwischen Bildung, Herkunft, Sozialstatus und kultureller Beteiligung.
Die Zugänglichkeit bleibt also schwierig, aber auch die Haltung in Teilen des Publikums ist eher zögerlich. Es gibt einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung, die mit den öffentlich finanzierten Kulturangeboten wenig anfangen können. Und die auch trotz intensiver Bemühungen durch verschiedene Institutionen, kein Interesse an Kultur, beziehungsweise an der Kultur, die ihnen angeboten wird, haben. Pius Knüsel, von 2002 bis 2012 Direktor der Pro Helevtia, hat das auf die pointierte Formel gebracht: „Möglich, dass einige den Eingang zum deutschen Theater nicht finden. Doch muss man deutsches Theater verstehen, um in Deutschland glücklich zu sein? Muss man Pipilotti Rist lieben, um in der Schweiz heimisch zu sein?“
„Muss man Pipilotti Rist lieben, um in der Schweiz heimisch zu sein?“
Pius Knüsel, Direktor Pro Helvetia von 2002 bis 2012
Muss man nicht. Aber deswegen sollten Kulturinstitutionen ja trotzdem nicht aufhören, um ein möglichst diverses Publikum zu werben. Insofern ist es vielleicht eine ganz gute Idee, dass die Thurgauer Kulturstiftung, das Thurgauer Kulturamt und die kantonale Kulturkommission dem grossen Thema der kulturellen Teilhabe am 28. Oktober die zweite Thurgauer Kulturkonferenz widmen.
Unter dem Titel „Aufmachen!“ soll die Frage geklärt werden, was geschehen muss, damit der Zugang zu Kultur für Alle einfacher gestaltet ist (Anmeldungen sind bis 24. Oktober hier möglich). In Impulsvorträgen und mehreren Workshops will sich die Konferenz im Kreuzlinger Kulturzentrum Kult-X dem Thema nähern.
Wie kulturelle Teilhabe und Inklusion zusammenhängen
Vermutlich wird es dann auch erstmal darum gehen zu klären, was kulturelle Teilhabe überhaupt ist und wie sie sich zu anderen Begriffen wie beispielsweise Inklusion verhält. Vereinfacht gesagt: Bei kultureller Teilhabe geht es darum, den Zugang zu kulturellen Angeboten sicherzustellen, unabhängig von individuellen Unterschiedene wie Einkommen, ethnischer Herkunft, körperlichen Fähigkeiten oder Bildungsstand.
Inklusion hingegen ist ein breiteres Konzept, das sich auf die Einbindung aller Menschen in alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens bezieht. Kulturelle Teilhabe könnte man also eher als ein Instrument der Inklusion verstehen, da sie dazu beitragen kann, Menschen in die Gesellschaft einzubeziehen und soziale Barrieren abzubauen.
Die grosse Frage: Kultur - was ist das überhaupt?
Dann ist da ja noch die Frage, was überhaupt Kultur ist. Und wer darüber bestimmt. Für den früheren Pro-Helvetia-Direktor Pius Knüsel ist genau das ein Problem an Hoffmanns „Kultur-für-alle-Programm“: „Dieses politische Konzept setzt eine Wertedifferenz voraus, welche ideologisch fundiert ist. (…) Es klingt die Anmaßung der einen (der Elite) heraus, den anderen (der Masse) zu sagen, was wahre Kultur ist, die Anmaßung der Hochkultur, die Massenkultur als Unkultur, den Pop als Kommerz zu deklassieren.“ Eine solche Kulturpolitik fälle laufend Urteile und unterscheide ständig zwischen wertvoll und banal. Diese Politik mache „viele zu Bürgern zweiter Klasse und verabreicht ihnen anschließend Soziokultur als Rehabilitationsprogramm“, schreibt Knüsel in einem Aufsatz aus dem Jahr 2010.
Hoffmanns „Kultur für alle“ setzt Knüsel ein „Alle für die Kultur“ entgegen: „Es braucht die Beteiligung neuer Eliten an jener Macht, welche Ressourcen zuteilt - der Eliten der eingewanderten Kulturen, der Traditionalisten, der Laien, der Unterhaltung, der Wirtschaft, der technischen Innovation.“ Da ist man dann nicht mehr weit weg von der Frage, wie sehr das Publikum in den Kulturförderprozess eingebunden werden kann.
Über Daten das Publikum kennenlernen
Die einfachste Variante wäre: Über die Auswertung von Daten zum Beispiel. Bislang ist über die Bedürfnisse des Publikums im Thurgau wenig bekannt. Ein erster Schritt das zu ändern wäre, eine Umfrage zu lancieren, was die Thurgauer:innen sich vom Kulturleben in ihrem Kanton erwarten. Die Ergebnisse muss man dann nicht 1:1 umsetzen, das wäre Förderung nach Quote, aber einzelne Schwerpunkte lassen sich in der Kulturförderung daraus durchaus setzen. Eine zeitgemäße Kulturförderung, die kein Akzeptanzproblem bekommen möchte, sollte diese Aspekte zumindest mitdenken.
Daneben gibt es auch andere Modelle. Die Thurgauer Kulturstiftung hat es bei ihrem Wettbewerb „Ratartouille“ mit einer Publikumsabstimmung versucht. Und war damit eher so mittel erfolgreich.
„Die Chancen, die eine erweiterte Publikumsbeteiligung für die Zukunft von Kultureinrichtungen bedeuten, liegen darin, zu einem wechselseitigen Austausch, gemeinsamem Lernen und schließlich zu einer neuen Organisations- und Programmgestaltung zu kommen, die diversen Kulturen Rechnung trägt.“
Birte Werner, Leiterin des Zentrum für kulturelle Teilhabe Baden-Württemberg (Bild: Petra Coddington)
Das baden-württembergische Zentrum für kulturelle Teilhabe bindet das Publikum bei dem Förderprojekt „Weiterkommen!“ ein: „In seinem ersten Durchgang (2021) werden mehrere Vorhaben gefördert, die Publikum als Expert:innen involvieren, etwa als Beiräte für die Programmplanung, oder als Expert:innen für besondere Vermittlungsformate - für Menschen mit Behinderungen von Menschen für Behinderungen oder von Jugendlichen für Jugendliche“, schreibt Birte Werner, Leiterin des ZfKT, in einem Aufsatz in dem Fachmagazin «Kulturpolitische Mitteilungen».
Und: „Die Chancen, die eine erweiterte Publikumsbeteiligung für die Zukunft von Kultureinrichtungen bedeuten, liegen darin, zu einem wechselseitigen Austausch, gemeinsamem Lernen und schließlich zu einer neuen Organisations- und Programmgestaltung zu kommen, die diversen Kulturen Rechnung trägt“, so Birte Werner weiter.
In Konstanz geht die dortige Kulturamtsleiterin Sarah Müssig einen ähnlichen Weg. Sie möchte einen Kulturbeirat einrichten, der Kulturpolitik und Kulturförderer unterstützen soll. Beteiligt werden daran sollen neben Repräsentant:innen der Konstanzer Kulturszene auch Publikums-Vertreter:innen. Zwei oder drei Plätze werden für Interessierte ohne kulturellen Expert:innen-Hintergrund reserviert. Die Erwartungen an das zu gründende Gremium sind gross: „Es soll uns ein Stimmungsbild der aktuellen gesellschaftlichen Themen vermitteln und auch ein Korrektiv für unsere – zum Teil wahrscheinlich sehr fachlichen Überlegungen – sein“, sagt Müssig.
„Der Kulturbeirat soll uns ein Stimmungsbild der aktuellen gesellschaftlichen Themen vermitteln und auch ein Korrektiv für unsere – zum Teil wahrscheinlich sehr fachlichen Überlegungen – sein.“
Sarah Müssig, Leiterin Kulturamt Konstanz
Was jetzt also? Kultur für alle? Kulturen aller? Alle für die Kultur? Es kursieren verschiedene Neudeutungen von Hilmar Hoffmanns Grundidee. Aber noch keine führt alle wesentlichen Punkte zusammen. Es wird also Zeit für eine Neuformulierung von Hoffmanns Ideen. Eine Formulierung, die das Digitale ebenso mitdenkt, wie sie neue Nutzungsgewohnheiten und Wünsche des Publikums im 21. Jahrhundert berücksichtigt. Könnte es eine schönere Aufgabe für die anstehende Kulturkonferenz im Thurgau geben?
Die Thurgauer Kulturkonferenz findet statt am Samstag, 28. Oktober, zwischen 9:30 und 14 Uhr. Anmeldungen sind möglich bis 24.Oktober über die Website der Kulturstiftung des Kantons Thurgau
Was bedeutet kulturelle Teilhabe und unter welchen Voraussetzungen wird sie möglich? Die 2. Thurgauer Kulturkonferenz geht den Fragen nach, was geschehen muss, damit der Zugang zu Kultur für Alle einfacher gestaltet ist. Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit auf Worte Taten folgen können?
Verschiedene Expert:innen legen ihre Sichtweise auf das Kulturschaffen sowie die Rahmenbedingungen der Kulturproduktion und -rezeption dar. Wie im letzten Jahr bietet sich den Teilnehmenden in vier Workshops die Möglichkeit, bestimmten Themen vertiefter nachzugehen und Fragen zu diskutieren.
Programm
9:30 Uhr - Einfinden Publikum
10:00 Uhr - Begrüssung und Einführung in die Kulturkonferenz
Anders Stokholm, Stiftungsratspräsident Kulturstiftung
Jasmin Albash, , Musikerin und Teammitglied der Initiative «Helvetia rockt»
10:10 Uhr - Impulsreferat und Gespräch: Was muss man aufmachen: Jasmin Albash und Stefan Wagner im Gespräch mit Frank Cabrera Hernandez
10:40 Uhr - Pause
11:00 Uhr - Workshops
Auge: Mara Flückiger und Cyril Haudenschild, movo - Verein für darstellende Künste mit gehörlosen und hörenden Menschen
Ohr: David Herzmann, Kunstvermittler und Vorstand, Kultur für alle
Stimme: Christoph Keller, Autor
Bewegung: Lea Moro, Choreografin, Dozentin, Kulturmanagerin
12:15 Uhr - Podiumsdiskussion mit den Workshopleiter:innen
12:40 Uhr - Offene Diskussion
12:55 Uhr - Abschluss und Verabschiedung
Ab 13 Uhr - Imbiss
14 Uhr - Veranstaltungsende
Veranstaltungsort: Kult-X in Kreuzlingen (Hafenstrasse 8)
Hier geht's direkt zur Anmeldung: https://www.kulturstiftung.ch/anmeldung
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